Am 7. Oktober hat sich der Nahe Osten und der Alltag von Israelis und Palästinenser*innen auf einen Schlag verändert. Ein Versuch, die Hoffnung und die Widerstandskraft zu wahren.

Seit den brutalen und mörderischen Angriffen der Hamas auf die Zivilbevölkerung im Süden Israels am 7. Oktober hat sich der Nahe Osten und der Alltag von Israelis und Palästinenser*innen auf einen Schlag verändert. Der Jahrzehnte dauernde Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung in Gaza und der Westbank hat ein neues entsetzliches Ausmass angenommen. Gaza liegt nach wochenlangen flächendeckenden Bombardierungen in Trümmern. Abertausende Familien in Gaza sind obdachlos und auf beiden Seiten der Mauern fürchten und trauern Menschen um ihre Liebsten. medico fordert einen sofortigen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln.

Derweil geht im politischen und medialen Kampf um Deutungshoheit, im gegeneinander Aufwiegen von Zahlen und Gräueltaten, oft verloren, dass wir über Menschen sprechen, die Träume hatten und vielleicht noch haben, und die um ihr Leben und Überleben kämpfen. Deshalb wollen wir hier die Stimmen dieser Menschen in den Fokus stellen. Es sind Nachrichten aus Gaza und Israel, die wir von Freund*innen erhalten oder über Online-Medien gelesen haben. Es sind Stimmen aus linken Bewegungen, von Menschenrechtsaktivist*innen. Einige der Menschen, die zu Wort kommen, wurden getötet und wir trauern um sie. Von anderen wissen wir beim Verfassen dieser Zeilen nicht, ob sie noch am Leben sind. Ihre Stimmen sollen hier Raum finden. Wir sind all diesen Menschen unendlich dankbar für ihre radikal menschliche Haltung!

Bild: Kleine Momente der Ablenkung vom Krieg. Die PMRS-Outreach-Teams führen in Notunterkünften Animationsprogramme zur psychosozialen Unterstützung für Kinder durch. Auch das ist Widerstand.

Wir vergessen Euch nie ...


Hiba Kamal Abu Nada
Das letzte Gedicht der palästinensischen Autorin, Dichterin und Feministin, bevor sie in der Nacht vom 20. Oktober durch einen Luftangriff der israelischen Armee im Süden des Gazastreifens 32- jährig getötet wurde: 

Die Nacht in der Stadt ist dunkel, ausser dem Lichtstrahl der Raketen
Still, ausser dem Schall der Bomben
Beängstigend, ausser dem beruhigenden Versprechen des Gebets
Schwarz, aber erleuchtet vom Licht der Märtyrer*innen1.

Gute Nacht!
(8. Oktober 2023, Twitter)


Kalil Abu Yahia
Khalil wurde am 30. Oktober durch einen israelischen Luftangriff in Gaza getötet. Mit ihm starben auch seine Frau und seine zwei Kinder. Eine der letzten Nachrichten des Literaturstudenten, Lehrers und Menschenrechtsaktivisten:
Unser Haus, in dem ich und meine Familie leben, ist von israelischen, in den USA fabrizierten F16 Bombern zerstört worden. Es ist der Ort meiner Erinnerungen an meinen verstorbenen Vater. Ich bin extrem traurig. Die Tränen hören nicht auf zu fliessen und ich kann fühlen, wie mein Herz brennt. Ich fühle, wie meine Seele von all dem erstickt wird. Ich möchte schreien, die Welt aufwecken! Wenn wir überleben, werden wir obdachlos sein. Aber ich weiss, dass es in den Herzen meiner geliebten Freund*innen immer einen Zufluchtsort geben wird, der niemals zertört werden kann. Es ist wichtig für mich auszudrücken, dass dies alles niemals meinen Enthusiasmus für eine bessere Welt besiegen kann, eine bessere Welt für alle ohne Diskriminierung. Ich träume immer noch davon, dass alle Menschen eine sichere Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit haben werden, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, von ihrer Religion, von ihrer Herkunft. 
(10. Oktober 2023, private Nachricht)


Hayim Katsman
Aus der Trauerrede von Noy Katsman für Bruder Hayim Katsman. Hayim war Politikwissenschaftler, Zionismusforscher, israelischer Friedensaktivist und Besatzungsgegner. Er wurde am 7. Oktober 2023 im Alter von 32 Jahren im Kibbuz Cholit nahe der Grenze zum Gazastreien ermordet.
Als Friedensaktivist*in [wie mein Bruder], appelliere ich an meine Regierung und an uns alle, unsere Toten und unseren Schmerz nicht dazu zu benutzen, den Tod und den Schmerz anderer Menschen oder anderer Familien zu verursachen. Ich fordere, dass wir den Kreislauf des Schmerzes durchbrechen und verstehen, dass der einzige Weg Freiheit und gleiche Rechte ist. Frieden, Solidarität und Sicherheit für alle Menschen.
(14. Oktober 2023, Instagram)


Bilha und Yakovi Inon
Am 7. Oktober wurden Bilha und Yakovi Inon, die Eltern des israelischen Sozialunternehmers und Friedensaktivist Maoz Inon von Hamas-Kämpfern getötet. Er schreibt:
Jemand muss den Mut haben, den Kreislauf von Gewalt und Blutvergiessen endlich zu beenden. Ich bin auch mit der Geschichte der Palästinenser*innen vertraut, mit der Nakba, den Intifadas, dem Zustand im Westjordanland, das von der israelischen Regierung kontrolliert wird. Ich ertrinke in einem Ozean aus Trauer und Schmerz, aber ich suche keine Rache. Rache wird meine Eltern nicht wieder zum Leben erwecken, sie wird die Katastrophe nur noch vergrössern. Krieg ist nie die Antwort. (19. Oktober, Al Jazeera English)

Hoffen auf Zukunft


David Issacharoff,
israelischer Nachrichtenredakteur
Ich gehöre zur verlorenen Generation Israels ... Etwa 350'000 [israelische] Soldat*innen und Reservist*innen sind jetzt im Einsatz, einige von ihnen für die ‹unmögliche Mission›, die Hamas-Führung in Gaza auszulöschen. [...] Der Gazastreifen hat eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt: Die Hälfte der Einwohner ist unter 18 Jahre. Haben die jungen Menschen im Gazastreifen überhaupt eine Lebensperspektive, ausser ein weiteres Jahr zu überleben? Einen weiteren Krieg? [...] Ich habe noch nie eine solche Verzweiflung und Hilflosigkeit empfunden, wenn ich weiss, dass so viele Menschenleben bereits auf grausame Weise ausgelöscht wurden und dass noch so viele weitere folgen werden. [...] (19. Oktober 2023, Haaretz English)


Ori (31), eingezogener israelischer Reservist in einer medizinischen Einheit
Ich habe den Eindruck, die meisten Leute auf allen Seiten sind nicht fähig, die Komplexität der Situation zu sehen, ohne sich dazu verleiten zu lassen, für eine Seite Position zu ergreifen. Das frustriert mich. Ich hoffe, es gelingt irgendwann, in der Debatte nicht mehr Israel und Palästina und Jüd*innen und Araber*innen einander gegenüberzustellen, sondern ‹Friedenssuchende› und ‹Kriegssuchende›. Beide gibt es auf beiden Seiten. Ich finde Trost im Glauben, dass die schlimmsten Ereignisse gute Sachen hervorbringen können. (26. Oktober 2023, private Nachricht)


Khalil Abu Yahia
Schlusswort einer Rede von 2022
Ich hoffe, dass wir in diesem Gefängnis von Gaza nicht vergessen werden und dass unsere Geschichten erzählt werden. Ich hoffe, dass ich meinen Master abschliessen kann, bevor ich sterbe. Ich hoffe, dass ich einmal erleben kann, wie es sich anfühlt, zu reisen, bevor ich verschwinde. Ich hoffe, dass alle unterdrückten Menschen ihre Rechte zurückerhalten und den Sinn des Lebens geniessen können. Erinnern wir uns daran, was Bobby Seale von den Black Panthers sagte: «Man kann Rassismus nicht mit Rassismus bekämpfen. Man muss ihn mit Solidarität bekämpfen.» Denkt daran, dass ihr euren Kindern und der nächsten Generation von eurer heutigen Situation erzählen müsst. Werdet ihr ihnen erzählen, dass es unterdrückte Menschen gab, aber es uns nicht gekümmert hat, ODER dass wir Hand in Hand für Gerechtigkeit und Freiheit gekämpft haben? Ihr habt die Wahl!

Sahar Vardi, Khalil’s Freundin und israelische Menschenrechts- und Anti-Militarismus-Aktivistin
Selbst in seinem Tod erinnert uns Khalil an unsere Rolle als Menschenrechtsaktivisten und Freiheitskämpferinnen: Wir müssen weitermachen, damit so etwas nie wieder passiert. (3. November 2023, +972 Magazine)

Kampf um jedes Leben


Palestinian Medical Relief Society,
medico-Partnerorganisation, Team Ramallah
Heute Morgen möchten wir auf die unglaubliche Arbeit von Dr. Hassan Zein El-Din hinweisen. Er legt täglich bis zu 20km auf seinem Fahrrad zurück, um Patient*innen zu besuchen. Dank seinem Fahrrad kann er Schwierigkeiten auf dem Weg überwinden. Der Treibstoff ist ausgegangen und viele Strassen sind zerstört. Stösst er auf Trümmer, trägt er seine medizinische Ausrüstung und sein Fahrrad, um ans Ziel zu gelangen. Er riskiert sein Lebens und findet nachts keinen Schlaf. Er tut dies, während er sieht, wie sein Land und sein Volk auseinandergerissen werden. Er tut dies mit wenig Nahrung und Wasser. Er hört nicht auf, für die Hunderten von Palästinenser*innen, die ihn brauchen. Wir bewundern Dr. Hassans Hingabe und Entschlossenheit. Nach vier Wochen anhaltender Bombardierung und Terror danken wir ihm und all unseren Teams für ihre unerschütterliche Stärke und ihr Engagement für die medizinische Versorgung inmitten dieser schrecklichen Bedingungen. (2. November 2023, Instagram)

Bild: Täglich nimmt Dr. Hassan den gefährlichen und beschwerlichen Weg zu seinen Patient*innen auf sich.


Physicians for Human Rights Israel, medico-Partnerorganisation
Acht Tage sind vergangen, seit unsere Welt auf den Kopf gestellt wurde und wir uns in den zerstörerischsten Kämpfen seit Jahrzehnten wiederfinden. Wir sind rund um die Uhr an zahlreichen Fronten aktiv. [...] Wir leisten dringende medizinische Hilfe für Gemeinden und thailändische Arbeitsmigrant*innen, die aus dem Süden evakuiert wurden. [...] Wir verfolgen die Angriffe auf den Gazastreifen mit grosser Sorge und weisen auf die Rechtswidrigkeit und Unmoral der vorsätzlichen Schädigung unschuldiger Zivilist*innen hin. Sobald die Kämpfe aufhören und die Situation es zulässt, werden wir dringende medizinische und humanitäre Hilfe für die Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen bereitstellen, wie wir es nach Kampfhandlungen immer tun. (15. Oktober 2023, Facebook)

Internationale Solidarität


Palestinian Medical Relief Society,
medico-Partnerorganisation, Team Ramallah
Vielen Dank für Eure wunder- baren Nachrichten an unser Team in Gaza. Ihr habt uns bewegt. Ihr habt uns stolz gemacht. Ihr habt uns stärker gemacht. Hört nicht auf, über Palästina zu berichten und zu sprechen. Hört nicht auf, Licht auf die Tragödie in Gaza zu werfen. Verliert nicht die Hoffnung! Als zivilgesellschaftliche Basisorganisa- tion wissen wir nur zu gut, welche Macht die Menschen haben, wenn sie sich für das Gute zusammenschliessen. Wir glauben an die Macht des Kollektivs. Wir glauben an euch. (22. Oktober 2023, Instagram)




1 Mit Märtyrer*innen sind in der Region alle Menschen gemeint, die in einem gewaltsamen Konflikt/Krieg getötet wurden.