Palästinensische Gesundheitsarbeiter*innen arbeiten Hand in Hand mit freiwilligen israelischen Ärzt*innen im Kampf für das ‹Recht auf Gesundheit für alle›. Ihr Kampf ist derselbe – die Rahmenbedingungen unterscheiden sich jedoch stark.

Alice Froidevaux

Das Gesundheitssystem in Gaza leidet seit Jahren unter den abgeriegelten Grenzen. Es herrscht ein chronischer Mangel an Ausrüstung, lebensrettenden Medikamenten und ausgebildetem Fachpersonal. Viele Behandlungen können vor Ort nicht durchgeführt werden. Mit der Covid-19-Pandemie kamen die Angst vor dem totalen Kollaps des Gesundheitssystems und die ‹Zwei-Klassen-Impfkampagne› Israels, welche die palästinensische Bevölkerung in den besetzen Gebieten aussen vor liess.

Und dann kam der nächste Krieg: 248 Palästinenser*innen wurden bei den Angriffen im Mai 2021 getötet. Mehr als 1900 Personen wurden verletzt.1 Wichtige Gesundheitseinrichtungen und Zugangsstrassen zu Spitälern wurden beschädigt. Verwundete und das Gesundheits-personal waren schutzlos, denn im Gegensatz zu 2014 gab es keinen humanitären Korridor – also keine Zusicherung Israels, dass medizinisches Personal vom Norden in den Süden des Gazastreifens gelangen kann, ohne Luftangriffe fürchten zu müssen.

Die Menschen in Gaza waren einmal mehr die Hauptleidtragenden der militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel. Die Zerstörung ist gross und der Wiederaufbau wird schwierig. Kriegs-versehrte brauchen medizinische Behandlung und Rehabilitation. Am schwierigsten zu behandeln ist die wiederholte seelische Traumatisierung der Bevölkerung.

Medizinische Friedensbrücke

Die medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel (PHRI) setzt sich seit über 30 Jahren für einen gerechten Zugang zur Gesundheitsversorgung aller Bewohner*innen Israels und der besetzten Gebiete ein. Im Rahmen der ‹medizinischen Friedensbrücke› fahren freiwillige israelische Ärzt*innen und medizinische Fachleute an ihren arbeitsfreien Samstagen in Dörfer im Westjordanland und im Gazastreifen. In den mobilen Kliniken führen sie zusammen mit palästinensischen Berufskolleg*innen unentgeltliche Konsultationen durch. Zusätzlich organisiert PHRI eine Zusammenarbeit zwischen palästinensischen und israelischen Spitälern: Israelische Fachärzt*innen führen in Palästina Operationen durch. Wenn die nötige Behandlung aufgrund der Ausstattung nicht möglich ist, werden die Patient*innen in ein Spital in Israel gebracht – voraus-gesetzt, dass die israelische Armee dies auch zulässt.

«Die medizinische Hilfe ist nur ein Teil unserer Arbeit,» betont Dana Moss, internationale Sprecherin von PHRI. «Mindestens genauso wichtig ist die politische Dimension. PHRI ist überzeugt, dass Gesundheitsarbeiter*innen nicht nur massgeblich sind für den Schutz vor Menschenrechtsverletzungen, sondern auch dafür, diese zu dokumentieren und anzuklagen.» Ein grosser Teil der PHRI-Mission ist das Verfassen von Berichten und die gezielte Lobby- und Sensibilisierungsarbeit in Israel wie international. PHRI kritisiert offen, dass Israel als Besatzungsmacht die medizinische Versorgung der palästinensischen Bevölkerung politischen Zielen unterordnet und somit das Menschen-recht auf Gesundheit verletzt.

Sich dem Konflikt stellen

Die mobilen Kliniken der PHRI wären nicht möglich, ohne den Einsatz von zahlreichen Freiwilligen. «Das sind Ärzt*innen und Gesundheitsarbeiter*-innen mit einer ohnehin schon extremen Arbeitsbelastung,» unterstreicht Dana. «Sie geben ihr Wochenende her,  um unter schwierigsten Bedingungen Menschen zu helfen.»

Eine der PHRI-Freiwilligen ist Jumana Milhelm, 38-jährig, verheiratet, mit zwei kleinen Kindern. Sie ist Psychiaterin spezialisiert auf Traumatherapie im Rambam Campus, dem grössten Krankenhaus im Norden Israels. «Ich habe mich bewusst für ein Leben mitten im Konflikt entschieden,» beginnt Jumana. «In Israel gibt es viele Gebiete, die entweder jüdisch oder arabisch sind. In den gemischten Städten, wie Haifa, wo ich heute lebe, trifft man generell auf mehr politisches Bewusstsein, mehr Dialog über das Zusammenleben und eine bewusstere Auseinandersetzung mit dem Konflikt.» Seit zehn Jahren ist Jumana für die mobilen Kliniken der PHRI im Einsatz. «Ich kann mich sehr gut mit der Zielsetzung der Organisation identifizieren. Und ich kann mein politisches Engagement mit meiner Gesundheitsarbeit verbinden,» beschreibt sie ihre Motivation.

Für ihr Engagement wurde die Psychiaterin in ihrem Umfeld stark kritisiert. «Ich gehöre der arabischen Religionsminderheit der Drus*innen an. Wir sind Zionist*innen und der Grossteil der drusischen Gemeinschaft unterstützt den Staat Israel. Mein Bruder diente in der Armee. Deshalb konnte meine Familie zu Beginn meine Entscheidung nicht akzeptieren. ‹Du verrätst dein Land› und ‹Wie kannst du Palästinenser*innen helfen? Du solltest deinen eigenen Leuten zuerst helfen!›, musste ich mir anhören. Heute hat sich ihre Meinung revidiert. Seit Israel im April 2018 das neue Nationalstaatengesetz verabschiedete, das nicht nur die palästinensische sondern auch die drusische Bevölkerung als Bürger*innen zweiter Klasse definiert, hinterfragen immer mehr Drus*innen ihre Loyalität zum israelischen Staat.»

PHRI erhofft sich, dass die Freiwilligen neben ihren Wochenendeinsätzen, auch ihre Kolleg*innen am Arbeitsplatz sensibilisieren. «Das ist nicht immer einfach,» erklärt Jumana. «Ich habe hauptsächlich jüdische Arbeitskolleg*innen. Sie verstehen mein Engagement, heissen es aber nicht unbedingt gut. Meinen Vorgesetzten im Rambam Spital erzähle ich nicht, dass ich für PHRI arbeite, weil ich weiss, dass sie das nicht gerne sehen würden.»

Die Ungleichheit nicht ignorieren

«Wenn ich unseren Freiwilligen zuhöre, spüre ich oft ein Gefühl der Schuld. Sie reisen in das besetzte Gaza, haben aber die Freiheit, wieder zu gehen. Wenn sie einmal dort gewesen sind und das Ausmass des Unrechts gesehen haben, fragen sie sich «Wie kann ich nicht dorthin zurückkehren?» erläutert Dana.

«Unsere Reisen sind immer mit viel Ungewissheit verbunden, weil nie klar ist, was am Grenzübergang passiert,» sagt Jumana. «Dass sie uns nicht einreisen liessen, habe ich selber zum Glück noch nie erlebt. Aber es gibt immer lange Wartezeiten ohne Grund und die Befragungen durch die Grenzwache sind erniedrigend und aggressiv. Es gehört zur Strategie der israelischen Armee, Freiwilligen, die nach Gaza fahren, die Reise möglichst unangenehm zu machen. Noch frustrierender ist für mich aber, zu sehen,

wie limitiert unsere medizinische Hilfe bleibt. Das Gesundheitssystem in Gaza ist desaströs. Es fehlt an allem. Und oftmals haben unsere Patient*innen keine Möglichkeit für eine weiterführende Behandlung.»

Trotz der Einschränkungen ist es Jumana ein grosses Anliegen, dass die Arbeit der PHRI weitergeführt wird. «Es geht um den Akt, nach Gaza zu fahren. Darum, Bewusstsein zu schaffen – nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei den Patient*innen. Dass wir ihnen zeigen können, dass nicht sie das Problem sind. Natürlich haben sie Albträume und Depressionen nach einer Bombardierung. Es ist eine normale Reaktion auf eine nichtnormale Situation. Deshalb versuchen wir auch ihr politisches Bewusstsein zu stärken und ihnen aufzuzeigen, dass sie ein Recht auf Gesundheitsversorgung haben – nicht nur als Menschen sondern auch als Palästinenser*innen.»

«Das ist natürlich eine sehr schwierige Aufgabe, die viel Feingefühl und eine ständige Selbstreflektion verlangt,» ergänzt Jumana. «Ich bin Teil des Staates, der sie besetzt! Vielleicht bin ich in gewisser Weise neutral, weil ich arabischer Abstammung bin. Viele palästinensische Israelis sagen ‹ich bin auch Palästinenser*in – ich bin wie sie›. Aber das stimmt nicht. Wir haben einen israelischen Pass und müssen verstehen, was für ein Privileg das ist. Wir können die Ungleichheit, in der wir arbeiten, nicht ignorieren. Und wir müssen vorsichtig sein, dass wir die Menschen in Gaza nicht bevormunden, indem wir ihnen sagen, was sie tun oder wie sie sich fühlen sollten. Es sind sie, die jeden Tag in dieser eingeschlossenen Realität leben müssen.

Wenn das Trauma zur Routine wird

Naila Hamid2 lebt in Gaza. Die 32-jährige Palästinenserin hat einen Master in Psychologie und ein Diplom in Projektmanagement. Zudem ist sie seit 2014 Teil der von medico ausgebildeten Gruppe von Psychodramatikerinnen.3 Sie hat viele Jahre im Grenzgebiet als Kinderpsychologin gearbeitet und kriegstraumatisierte Kinder behandelt. Seit sechs Jahren arbeitet sie nun für eine internationale NGO als psychologische Beraterin in Schulen.

Hört man die persönliche Geschichte von Naila, wird erst richtig klar, was die junge Frau alles geleistet hat, um da anzukommen, wo sie heute steht. Nach dem Tod ihrer Mutter und der erneuten Heirat ihres Vaters musste sie als älteste Tochter die Verantwortung für ihre sechs Geschwister übernehmen. Neben Haushalt und Arbeit hat sie ihren Master gemacht und Englisch gelernt. Sie war zweimal verheiratet und erlebte von ihrem zweiten Ehemann massive häusliche Gewalt. Heute lebt sie als alleinerziehende Mutter und kämpft mit der gesellschaftlichen Stigmatisierung getrennt lebender  Frauen.

Neben diesen Herausforderungen hat Naila 15 Jahre Besatzung und vier Kriege erlebt – immer wieder in Angst um das eigene Leben und um das ihrer Angehörigen. «Manchmal ist es mir ein Rätsel, wie ich immer noch lächeln kann,» gesteht sie. «An mir selbst, aber noch stärker an meinen Patient*innen, erkenne ich, wie ein Trauma zur Routine wird. Du wurdest im ersten Krieg evakuiert, dann im zweiten... heute ist es die vierte Evakuierung aus deinem Zuhause.» Kritisch beobachtet Naila auch die Unterstützung durch NGOs: «Nach einem Krieg vermehren sich sofort die Hilfsangebote. Noch immer gibt es jedoch viele spendengetriebene Organisationen, die ohne langfristige Zielsetzung arbeiten. Nothilfe ist wichtig, aber sie hinterlässt auch viele wütende Begünstigte, die sich ausgenützt fühlen in ihrem Leiden und das Vertrauen in Institutionen verlieren. Toll aber ist, dass die Menschen ein immer grösseres Bewusstsein für ihr Recht auf psychische Gesundheit entwickeln und sich aktiv um Unterstützung bemühen.»

Selbstsorge als Basis

Um sich selbst kümmern sich ‹Helfer*innen› wie Naila und Jumana oftmals viel zu wenig und auch Programme zur psychologischen Begleitung von Gesundheitsarbeiter*innen sind noch rar. Bei PHRI absolvieren die Freiwilligen vor ihrem Einsatz einen Vorbereitungsworkshop. «Es geht vor allem darum, uns gegenseitig kennen zu lernen und eine Vertrauensbasis zu schaffen. Denn ehrlich gesagt: Es gibt eigentlich nichts, was dich auf einen Einsatz in Gaza vorbereiten kann. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, bis du da bist,» betont Dana. «Wir sind uns auch bewusst, dass die Einsätze eine starke emotionale Belastung sind. Die Mitarbeitenden der mobilen Kliniken erleben herzzerreissende Momente, die sie mitnehmen und nicht einfach wieder abschütteln können. Bisher können wir leider erst für unsere festangestellten Mitarbeiter*innen eine psychologische Betreuung anbieten, aber Betreuungsprogramme für unsere Freiwilligen sind in Planung.»

«Ich weiss ehrlich gesagt nicht, wo ich heute ohne die Unterstützung durch die Psychodrama-Gruppe wäre,» sagt Naila nachdenklich, aber auch glücklich. «Die Gruppe gab mir zum ersten Mal Raum, mich um meine eigenen Wunden zu kümmern. Ich konnte zum ersten Mal über meine Gefühle, aber auch über schwierige Fälle aus dem Arbeitsalltag sprechen. Erst als ich eine Weile aufgrund meiner Arbeitszeiten nicht an den Treffen teilnehmen konnte, habe ich gemerkt, wie wichtig dieser Austausch für mich ist. Ich bin in eine starke Depression gefallen und musste auch medikamentös behandelt werden. Wie-der mit der Psychodrama-Gruppe vereint zu sein, auch wenn es im Moment nur online möglich ist, fühlt sich einfach wunderbar an und gibt mir Kraft.

Angaben Gesundheitsministerium Palästina

2 Name von der Redaktion geändert.

3 Das Psychodrama ist eine handlungsorientierte Gruppentherapie. Für medico ist dabei nicht nur die klinisch-therapeutische Arbeit wichtig, sondern auch die politische Bewusstseinsarbeit im feministischen und emanzipatorischen Sinne.