Trotz Krieg in Nordostsyrien treibt die Frauenbewegung den gesellschaftlichen Wandel voran – etwa mit der neuen mobilen Klinik der medico-Partnerorganisation Heyva Sor A Kurd für Frauen, homosexuelle und trans Personen.

Anouk Robinigg

Das Team der neuen Gesundheitseinheit von Frauen für Frauen, Mädchen, homosexuelle und trans Personen vom Kurdischen Roten Halbmond in Rojava.

Seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 steht die Selbstverwaltung Rojavas unter doppeltem Druck: Einerseits muss sie sich gegenüber der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham positionieren, die nun in Damaskus an der Macht ist, andererseits wehrt sie fortlaufende Angriffe der Türkei und verbündeter Milizen ab. Trotz dieser Bedrohungen entstehen neue Handlungsspielräume, die die Selbstverwaltung aktiv nutzt. Gleichzeitig hält die Gewalt im Land an: Das neue Regime spricht zwar von Einheit und Inklusion, doch Minderheiten werden regelmässig Opfer von Angriffen und Massakern. Die Lage ist instabil. Auch in Rojava nehmen die Angriffe durch verbliebene IS-Zellen wieder zu.

Überleben ist Widerstand

Die Bevölkerung kämpft weiter für ein selbstbestimmtes Leben – und wird dabei zur Zielscheibe: Dutzende Zivilist*innen wurden bei Angriffen der Türkei und ihrer dschihadistischen Proxytruppe SNA getötet, darunter auch medizinisches Personal und Journalist*innen. Die medico-Partnerorganisation Heyva Sor a Kurd (Kurdischer Roter Halbmond) versorgt unter schwierigsten Bedingungen Verletzte – trotz gezielter Angriffe auf Ambulanzen und der Zerstörung mehrerer Fahrzeuge. Sie betreut auch über Hunderttausend Menschen, die vor der islamistischen Machtübernahme nach Rojava flohen. Diese tägliche Hilfe ist Ausdruck gelebten  Widerstands: Die Verteidigung des Lebens wird zur Verteidigung der Revolution.

Heyva Sor A Kurd ist mehr als eine medizinische NGO – sie ist Teil des basisdemokratischen Projekts in Rojava. Trotz des Krieges arbeitet sie mit den Gesundheitskomitees der Selbstverwaltung am Aufbau eines autonomen Gesundheitssystems. Dabei setzt sie auf lokale, ethnisch und geschlechtlich diverse Strukturen, fördert Community Health Worker aus Camps und Dörfern und ermöglicht besonders Frauen eine Ausbildung und eigene Existenzgrundlage. In einem von Vertreibung und Krieg geprägten Gebiet wird medizinische Versorgung zur Überlebensstrategie – und zum Widerstand gegen staatliche und islamistische Vernichtungspolitik. Das Ziel der türkischen Angriffe ist klar: Die Zerstörung von Lebensgrundlagen soll Migration erzwingen und die Region entvölkern. Das Überleben der Bevölkerung ist ein politischer Akt. Es ist Widerstand gegen die Auslöschung, gegen koloniale Interessen und patriarchale Gewalt. Wo Menschen bleiben, sich organisieren, heilen, arbeiten und ihre Kinder aufziehen, da bleibt auch die Hoffnung auf eine andere Zukunft – eine, in der Selbstbestimmung, Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt keine Utopien bleiben müssen.

Die neue Women’s Health Unit

Seit Anfang des Jahres ist das neueste Projekt von Heyva Sor im Einsatz: eine mobile Frauen-Gesundheitseinheit. Die kleine Klinik auf Rädern versorgt ländliche Gebiete rund um Qamishlo und bietet wichtige medizinische Hilfe. Zum ersten Mal wurde ein solches Projekt vollständig von Frauen geplant und umgesetzt – auch das Personal besteht ausschliesslich aus Frauen. Die Klinik richtet sich an Frauen, Mädchen sowie trans und homosexuelle Personen. 

Initiiert vom Frauenkomitee von Heyva Sor, reagiert das Projekt auf die vielfältigen Herausforderungen, mit denen Frauen täglich konfrontiert sind: fehlende Gesundheitsversorgung, Nahrung, Geld, Gas und Benzin. Hinzu kommen häusliche Gewalt, Belästigung und sexuelle Ausbeutung. Viele Frauen haben eingeschränkte Bewegungsfreiheit und damit kaum Zugang zu Bildung oder medizinischer Hilfe. Spezialisierte Angebote zur Frauengesundheit sind bisher selten.

Frauenbefreiung

Der Kampf um Frauenbefreiung in Rojava ist ein fortwährender Prozess – hart erkämpft und durch konkrete Unterstützungsstrukturen getragen. Frauen fehlt oft der Zugang zu selbstbestimmter reproduktiver Gesundheit: Schwangerschaftsabbrüche sind kaum möglich, auch bei medizinischer Gefährdung. Feminizide, Zwangsverheiratungen und soziale Ächtung betreffen insbesondere junge Schwangere und Witwen, die ausserhalb der politischen Strukturen stehen. Die Frauenbewegung in Nordostsyrien reagiert auf diese patriarchale Gewalt mit einem dichten Netz an Frauenhäusern, Komitees und kollektiven Projekten wie dem Frauendorf Jinwar.

Diese selbstverwalteten Strukturen ermöglichen Frauen Schutz, Bildung und Teilhabe. Trotz Krieg und Belagerung wird das emanzipatorische Projekt stetig weiterentwickelt. In ländlichen Gebieten, wo patriarchale Normen oft tiefer verankert sind, sind die Herausforderungen grösser – genau hier setzt die neue mobile Frauenklinik von Heyva Sor A Kurd an. Ihr Fokus: niederschwellige medizinische Versorgung, Aufklärung und psychosoziale Unterstützung – getragen von einem Team aus Ärztin, Hebamme, psychosozialer Beraterin, Community-Gesundheitsarbeiterin und einer Fachperson für Schutzmassnahmen.

Gesundheit und Emanzipation

Ein zentraler Bestandteil der mobilen Klinik ist Sexualaufklärung – ein sensibles, oft tabuisiertes Thema. Die Klinik vermittelt Wissen über Menstruation, Sexualität, Schwangerschaft und sexuell übertragbare Krankheiten. Auch mit gesellschaftlich tief verankerten Mythen wie dem «Jungfernhäutchen» wird behutsam, aber entschieden gebrochen. Die Angebote richten sich bewusst auch an junge Männer, besonders vor der Ehe, um Dialog und Reflexion anzuregen.

Psychosoziale Beratung ist ein weiteres zentrales Element. Frauen, die sexualisierte Gewalt oder familiäre Übergriffe erlebt haben, erhalten Unterstützung und können in sichere Räume vermittelt werden. Auch queere und trans Personen finden hier erstmals einen geschützten Ort, in dem ihre Existenz anerkannt und ihre Bedürfnisse ernst genommen werden. Mitten im Krieg setzt die Frauenbewegung ein starkes Zeichen: Überleben, Aufklärung und Heilung sind radikale Akte des Widerstands gegen patriarchale und autoritäre Gewalt.

Zum ersten Mal wird eine Gseundheitseinheit in Rojava vollständig von Frauen konzipiert und betrieben – von der Planung bis zur Umsetzung. Das gesamte Personal besteht aus Frauen, inklusive der Fahrerinnen.