Die Auseinandersetzungen um ein neues Syrien dauern an. Ob das Land eine demokratische Zukunft hat, hängt davon ab, ob Verbrechen aufgearbeitet, Spaltungen überwunden und Minderheitenrechte gesichert werden.
Anita Starosta & Maja Hess
Hilfsgüter für die Menschen in Suweida werden auf die LKWs des Kurdischen Roten Halbmondes verladen.
Es war ein historischer Handschlag: Am 10.März 2025 einigten sich HTS-Milizenführer Ahmed al-Scharaa und der Oberbefehlshaber der kurdisch dominierten Syrisch Demokratischen Streitkräfte (SDF) Mazloum Abdi auf ein Abkommen, das die Rechte der Kurd*innen als Minderheit und ihre Zugehörigkeit zu Syrien festschreibt. Dies eröffnet auch neue Perspektiven für alle anderen Minderheiten im Land. Ein 10-Punkte-Plan soll dies sicherstellen. Vor dem Sturz Assads wäre ein solches Treffen undenkbar gewesen. Gleichzeitig steht al-Scharaa mit seiner islamistischen Miliz HTS und seiner al-Qaida-Vergangenheit für schwere Verbrechen an Kurd*innen, anderen Minderheiten und der demokratischen Opposition. Fünf Jahre sass er in US-Gefangenschaft. Dass er nun als Verhandlungspartner akzeptiert ist, zeigt nur einen der Widersprüche auf dem Weg zu einem demokratischen Syrien.
Seit dem Abkommen im März verhandeln SDF und HTS über die politische Zukunft Syriens, im Speziellen die Nordostsyriens. Ende Mai trafen sich erstmals Delegationen in Damaskus – auf Seiten der Selbstverwaltung sassen vier Frauen am Tisch, auf Seite der Übergangsregierung ausschliesslich Männer. Vereinbart wurden erste Schritte wie der gemeinsame Kampf gegen den IS und eine Dezentralisierung des Bildungssystems. Das Modell der Selbstverwaltung aus Rojava wird sich landesweit zwar kaum durchsetzen, doch es geht nun um die Sicherung von Autonomierechten, die Rückkehr von Vertriebenen sowie um die Durchsetzung von Frauenrechten und die Beteiligung von Minderheiten.
Für grosses Misstrauen sorgt der Entwurf für die Übergangsverfassung: Kurdische Vertreter*innen kritisieren fehlende Frauen- und Minderheitenrechte sowie die vorgesehene starke Zentralisierung der Macht zugunsten der Exekutive. Es sollen grosse Teile der alten Verfassung übernommen werden, was die Kontinuität autoritärer Strukturen befürchten lässt. Und während neu Glaubensfreiheit betont wird, soll das islamische Recht «Hauptquelle» der Gesetzgebung bleiben. Wie tief verwurzelt die konfessionellen und ethnischen Spaltungen sind, die der Assadismus und der Bürgerkrieg hervorgebracht haben, zeigen die anhaltenden Gewalteskalationen in dieser Umbruchszeit.
Der historische Handschlag zwischen SDF und HTS fand nur wenige Tage nach den Massakern an Alawit*innen an der syrischen Küste bei Latakia statt. Der Zeitpunkt sorgte für Kritik. Die Angriffe erschütterten viele, die nach dem Sturz des Assad-Regimes auf ein freies Syrien gehofft hatten – Erinnerungen an frühere Verbrechen wie den Völkermord des IS an den Jesid*innen oder die Übergriffe der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA) in Afrin und Serekaniye wurden wach. In Latakia meldeten lokale Beobachter über 1400 Tote. Im Juli folgte ein weiteres Blutbad: In der drusischen Region Suweida eskalierte ein lokaler Konflikt mit bewaffneten sunnitischen Beduinen und islamistischen Gruppen. Innerhalb weniger Tage wurden über 2000 Drus*innen getötet, mehr als 150000 vertrieben, Häuser geplündert und niedergebrannt. In beiden Fällen versagten staatliche Strukturen vollständig – Sicherheitskräfte der HTS-Regierung griffen nicht ein oder beteiligten sich sogar an den Übergriffen.
Auch die kurdische Bevölkerung geriet wieder ins Visier der Gewalt. Anfang Oktober griffen Regierungstruppen kurdische Stadtteile in Aleppo an und riegelten sie ab. Nur der Widerstand der Bevölkerung und der lokalen Verteidigungseinheiten verhinderte ein weiteres Massaker.
Trotz akuter Gefahr zeigten Nothelfer*innen der medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond (KRC) unmittelbar Solidarität mit den betroffenen Alawit*innen und Drus*innen. Noch während der Massaker machten sie sich im Konvoi auf den Weg nach Latakia, um LKWs mit Hilfsgütern an die Küste zu bringen. Die Versorgungslage in Suweida bleibt indes prekär, humanitäre Hilfe ist vom Syrischen Arabischen Roter Halbmond monopolisiert – der langjährige medico-Partner Kurdischer Rote Halbmond (KRC) versuchte wochenlang vergeblich, selbst Hilfsgüter dort hinzubringen. Die Initiative scheiterte immer wieder an bürokratischen Blockaden. Immerhin kann der KRC aktuell für ein Krankenhaus in Suweida dringend benötigte Medikamente für chronisch kranke Patient*innen beschaffen, die auf regelmässsige Versorgung angewiesen sind und sich teure Medikamente oder Reisen nach Damaskus nicht leisten können.
Mit der Aufhebung der US- und EU-Sanktionen gegen Syrien wurden wichtige Hürden abgebaut. Trotz politischer Bedingungen und westlicher Wirtschaftsinteressen eröffnen sie Chancen für Stabilisierung. Die Übergangsverfassung schafft Verhandlungsspielraum, den die Selbstverwaltung in Rojava nutzt. Eine Integration der SDF in die syrische Armee ist vereinbart, doch Autonomie, Frauenrechte und Demokratie seien nicht verhandelbar, betont die Kommandantin der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten Rohilat Efrin.
Kürzlich geplante Gespräche mit den USA, Grossbritannien und Frankreich scheiterten unter türkischem Druck. Die türkische Regierung will internationale Garantien für die Rechte der Kurd*innen verhindern. Ob die Übergangsregierung unter al-Scharaa ernsthaft demokratische Reformen einleitet, bleibt somit fraglich. Die Übergangsparlamentswahlen verstärkten die Zweifel: In kurdischen Gebieten und in Suweida wurden sie ausgesetzt. Dennoch bleibt die syrische Gesellschaft aktiv – sie will die nach dem Sturz Assads greifbar gewordene Freiheit verteidigen.