Der Shengal, das Siedlungsgebiet der Ezid*innen im Nordirak, kommt seit dem IS-Angriff 2014 nicht zur Ruhe. Die Türkei toleriert den Aufbau einer unabhängigen Ezidischen Selbstverwaltung nicht, bombardiert Infrastruktur und tötet gezielt wichtige Figuren der organisierten Zivilgesellschaft. Seit April versetzen Angriffe der irakischen Armee die Menschen zusätzlich in Angst und treiben erneut Hunderte zur Flucht.

Maja Hess1

Der gerade mal 18-jährige Fahrer und Übersetzer Aziz2 begleitet uns ins Dorf Til Azer. «Ich vermisse meine Vergangenheit», sagt er plötzlich. «Das ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin!» Er zeigt auf ein halb zerstörtes Haus mit Ladenlokal, in dem nun geflüchtete Menschen eine provisorische Unterkunft gefunden haben. «Hier hat mein Vater Gemüse verkauft, hier war mein Leben, bis der IS gekommen ist.» Auf der Strasse, auf der wir unterwegs sind, fehlt alle hundert Meter ein Streifen Teer. Während den Angriffen 2014 habe der IS Löcher in die Strasse gesprengt, um der Ezidischen Zivilbevölkerung die Flucht mit Fahrzeugen zu verunmöglichen. «Ich war zehn Jahre alt, als der IS kam», erzählt Aziz. «Meine Mutter ist mit uns Kindern sofort Richtung Gebirge losgelaufen. Wir hatten kein Wasser, aber am Fuss des Berges wussten wir eine Wasserquelle. Alle jungen noch unverheirateten Männer blieben zurück, um mit ihren einfachen Waffen unsere Flucht zu decken und den IS möglichst lange zu stoppen – das war ein Entscheid des Dorfrates. Sie sind für uns gestorben. Wir brauchten vier Tage bis auf den Berg. Viele alte Menschen haben es nicht geschafft. Sie wurden vom IS getötet.» Wir laufen durch das fast ausgestorbene Dorf, vorbei an zerstörten Gebäuden und Häusern, in denen wir noch die bunte Blumenwandmalerei sehen können. «Hier ist ein Massengrab», sagt Aziz und zeigt auf ein eingezäuntes Stück Land. Einziges Kennzeichen für dieses namenlose Grab sind ein paar mit Staub bedeckte Plastikblumen am Zaun.

Dann begegnen wir doch noch ein paar Personen, die in diesem von Trauer und Verlassenheit gezeichneten Ort unterwegs sind. «Sie sind hiergeblieben als Zeichen des Widerstandes gegen die Zerstörung und Auslöschung unserer Gemeinschaft», meint Aziz, «sie geben nicht auf!» Hoffentlich halten sie durch, denke ich. Viel Unterstützung ist hier nicht angekommen. Eben erst wurde ein kleiner Container für die provisorische Gesundheitsversorgung aufgestellt. Auch acht Jahre nach dem Angriff sieht alles fast so aus, als wäre der IS eben erst vertrieben worden.

Angriffe auf das Gesundheitssystem

Shoresh3 steht sichtlich bewegt vor dem zerbombten Spital in Sekenyie, im Süden des Shengal-Gebirges. Er ist Chemiker und Mitglied des ezidischen Gesundheitskomitees. «Im August letzten Jahres sind sie gekommen, Erdogans Flugzeuge, und haben das Krankenhaus zerbombt. Wir standen nur 300m entfernt am Checkpoint. Die irakischen Soldaten liessen uns nicht durch. Wir wussten nicht warum. Kurz darauf haben wir begriffen: sie wussten, dass es einen Bombenangriff geben wird.» Auf die Bomben folgten Drohnen, die gezielt auf die Eingänge des Gebäudes schossen, damit niemand dem Angriff entkommen konnte. «Acht Menschen wurden dabei getötet», erzählt Shoresh weiter, «drei Krankenpfleger*innen, ein Arzt und vier weitere Zivilpersonen. Eine Woche zuvor hatte ich ihnen eine Weiterbildung zu Laboranalysen gegeben. Jetzt sind sie tot, unter ihnen ein sehr guter Freund von mir.» Wir stapfen gemeinsam über die Trümmer, entdecken Laborutensilien, Röhrchen und Fläschchen, zerstörte Liegen, Plastikspritzen. «Hier wurden neben Zivilpersonen auch verletzte oder kranke Militärs versorgt, sowohl von der irakischen Armee wie auch von den Ezidischen Selbstverteidigungskräften. Wir haben alle behandelt.»

Eine halbe Stunde Autofahrt entfernt erreichen wir das Dorf Xane Sor am Nordfuss des Gebirges. Dort steht ein Krankenhaus der Ezidischen Selbstverwaltung. Nach dem Angriff auf das Spital in Sekenyie haben viele Fachkräfte den Ort verlassen. Sie wollten nicht Zielscheibe eines nächsten Angriffes werden. Denn es ist klar: die türkischen Streitkräfte greifen gezielt Einrichtungen der Ezidischen Selbstverwaltung an. Auch das Ezidische Gemeindezentrum, ein Ort für Versammlungen und religiöse Feiern, wurde von Drohnen beschädigt. Die über dem Eingang hängende Sonne – ein Wahrzeichen der Ezidischen Identität – ist durch den Angriff in Schieflage geraten. Nun soll sie wieder ins Lot gerückt werden und stolz über dem Eingang prangen. Seit dem Genozid durch den IS kämpft die Ezidische Gemeinschaft für den Erhalt ihrer Kultur und ihres Glaubens. Nach dem Vorbild der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava haben sie begonnen, eigene zivile und militärische Strukturen aufzubauen und sich selber zu verteidigen. Ihre Ressourcen sind bescheiden und knapp. Ihre Kraft ist der Zusammenhalt, der Wille zum Widerstand und zur Verteidigung der eigenen Identität und und Würde.

Projekte für die Zukunft

Mit Shoresh denken wir über mögliche Projekte nach. Sein grösster Wunsch ist ein neues Krankenhaus – besser noch: ein Frauenspital, damit keine Frauen mehr an Geburtskomplikationen sterben müssen. Doch leider gibt es in der Region viel zu wenig Gesundheitspersonal und Ärzt*innen. Es ist eine Kettenreaktion: Die prekäre Sicherheitslage führt zur Abwanderung von Fachkräften nach Europa und schwächt die Versorgung vor Ort. Und die prekäre Gesundheitsversorgung ist ein weiteres Fluchtmotiv für die Menschen, insbesondere für Familien mit kleinen Kindern. Eine umsetzbare Alternative, um den Vertriebenen einen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, sind mobile Kliniken, die die Gemeinschaften im Shengal-Gebirge und die abgelegenen Dörfer am Fusse des Berges erreichen könnten. Junge Frauen, zu empirischen Hebammen ausgebildet, könnten Präventionsarbeit leisten, mit ihren Kenntnissen Risiko-schwangerschaften entdecken und veranlassen, dass die Frauen, wenn nötig, frühzeitig in ein Krankenhaus in Mossul oder Tal Afar verlegt werden.

Auch eine Verbesserung der Wasserversorgung ist im Shengal-Gebirge dringend nötig, um die Gesundheit insbesondere der geflüchteten Kinder zu verbessern. Mit dem Genozid und der Vertreibung der Menschen durch den IS wurden die bewährten Bewässerungssysteme, die Terrassierung und der Anbau von Gemüse und Tabak fast komplett zerstört. Die Brunnen müssen immer tiefer gegraben werden. Wegen fehlendem und qualitativ schlechtem Wasser leiden viele Kinder an Magendarminfekten. Die medizinische Versorgung könnte durch mobile Kliniken verbessert werden. Und im Labor des Spitals von Xane Sor stehen Blutanalysegräte, die auch zur Wasserqualitätskontrolle eingesetzt werden können. Als Chemiker könnte Shoresh junge Menschen dafür ausbilden, solche Kontrollen durchzuführen. Es gibt Zukunftsperspektiven!

Im aktuell sehr unsicheren Kontext braucht es flexibel umsetzbare Basisprojekte. medico international schweiz sucht Wege, um die Ezidische Gemeinschaft im Bereich der Basisgesundheitsversorgung unbürokratisch und direkt unterstützen zu können. Die Ezid*innen verdienen unsere Solidarität in ihrem Kampf um Leben und Würde!


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Maja Hess hat im März dieses Jahres an einer Ärztedelegation in den Shengal teilgenommen. Dabei war sie mit verschiedenen Vertreter*innen der Ezidischen Selbstverwaltung in Kontakt.

2 Name geändert.

3 Name geändert.