Der Fokus der medico-Projektarbeit in Nicaragua liegt auf dem Kampf gegen geschlechterspezifische Gewalt und der Bildung in sexueller und reproduktiver Gesundheit. Das Selbstbewusstsein und die Handlungsfähigkeit von jungen Frauen soll gestärkt werden, damit sie ihre Zukunft autonomer gestalten können.

Barbara Klitzke

Geschlechterspezifische Diskriminierung sowie häusliche und sexualisierte Gewalt sind alltäglich in Nicaragua und zum Teil staatlich institutionalisiert. Die Feminizid-Rate hat 2021 erneut zugenommen: Schon im ersten Halbjahr wurden 32 Frauen getötet, weil sie Frauen sind1.

Im Frauenhaus des Colectivo de Mujeres 8 de Marzo in Managua finden von Gewalt betroffene Frauen, Jugendliche und Kinder Schutz und Beratung. Wenn sie endlich Hilfe suchen, fürchten die Frauen meist um ihr Leben: «Die Anzahl Frauen, welche wir hier beherbergen, kann gleichzeitig als Zahl verhinderter Frauenmorde gelesen werden,» sagt Mariluisa2, die Leiterin des Frauenhauses. Auch wenn die Dankbarkeit für den sicheren Raum gross ist, bleibt für Susana2, eine der schutzsuchenden Frauen, die grosse Frage nach Gerechtigkeit: «Warum müssen wir, die Opfer, uns hier wie Gefangene verstecken, während die Täter draussen frei herumlaufen?»

Seit 2019, der letzten Reform des Gesetzes gegen Gewalt an Frauen, ist es für Frauen in Nicaragua noch schwieriger geworden, sich juristisch gegen häusliche Gewalt zu wehren. Bevor eine Anzeige eingereicht werden kann, muss die Frau ‹zum Wohle der Familie› ein Mediationsgespräch mit dem Täter führen. Der Schutz der Frau wird also hinter ihre gesellschaftlich vorgegebene Rolle in der Familie gestellt – während der gewalttätige Mann vom Staat geschützt wird.

Die Spirale der Gewalt durchbrechen

Auch die 17-jährige Elisa2 lebt seit mehreren Wochen im Frauenhaus, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern. «Ich wurde von meinem Vater wie ein Tier verprügelt, weil ich lesbisch bin,» erzählt Elisa. «Im Frauenhaus sind wir aber eigentlich, weil mein Vater meine Mutter jahrelang spitalreif schlug.» Als die Gewalt erneut eskaliert war, schaffte es Elisas Mutter, den Mann aus dem Haus zu werfen. Die Polizei tauchte auf, mit der Aufforderung an die Mutter, eine Aussage zu unterschreiben, die besagte, dass ihr Mann nie gewalttätig geworden sei. Da zog sie die Reissleine und suchte Unterstützung beim Frauenkollektiv 8 de Marzo.

Der Aufenthalt im Frauenhaus hat der jungen Elisa die Augen geöffnet: «Hier sind wir ständig begleitet. Wir nehmen an Workshops zur Selbstfürsorge und zu unseren Rechten teil. Meine Mutter hat mit uns einen Plan aufgestellt, wie wir wieder zurück in unser Leben gehen können. Ich freue mich auf die Rückkehr nach Hause. Denn ich weiss jetzt, dass es nicht normal ist, geschlagen und vergewaltigt zu werden. Ich habe gelernt, mir Hilfe zu holen und mich zu wehren.»

#Niñas, no madres!

Nicaragua hat die höchste Teenagerschwangerschaftsrate in Lateinamerika: Ca. 30% der schwangeren Frauen sind unter 19 Jahre alt. Die grosse Schwierigkeit liegt darin, dass Jugendschwanger-schaften gesellschaftlich akzeptiert sind. Die 14-jährige Sara2 steht kurz vor der Geburt ihres Kindes. Im Mütterhaus von Nueva Guinea erzählt sie ihre Geschichte: «Ich bin seit eineinhalb Jahren mit meinem Mann zusammen. Meine Mutter hatte keine Bedenken, als ich mit ihm in ein entferntes Dorf zog.» Im Laufe des Gesprächs wird dann klar: Sara hatte schon vor ihrer jetzigen Schwangerschaft einen Abort und eine Totgeburt. 14-jährig – selbst noch ein Kind – und schon zum dritten Mal schwanger!

Die bereits 2016 von internationalen NGOs lancierte Kampagne Niñas, no madres! (Mädchen, keine Mütter) will das Bewusstsein für diese Situation schärfen und vor den Risiken einer Mutterschaft im Kinder-/Jugendalter warnen. «Es ist ein Aufruf an die Bevölkerung, die soziokulturellen Muster einer patriarchalen Gesellschaft zu ändern. Wir wollen, dass die Mädchen eine erfüllte Kindheit erleben und wirklich Mädchen sein können,» bekräftigen die Initiant*innen. Heute ist #Niñas, no madres zu einer lateinamerikaweiten Bewegung geworden, der auch die medico-Projektpartner*innen in Nicaragua angehören.

Empowerment durch Soziodrama

Das Thema Teenagerschwangerschaften ist ein fester Bestandteil der Sensibilisierungs- und Präventionsarbeit der medico-Partnerorganisationen im Bereich sexueller und reproduktiver Gesundheit und Recht auf Selbstbestimmung. Das Frauenkollektiv Masaya setzt in ihren Workshops mit Jugendgruppen die Methode des Soziodramas ein. Die Teilnehmenden spielen zum Beispiel die Geschichte eines schwangeren Mädchens und nehmen dabei abwechselnd verschiedene Rollen ein: die des Mädchens, die des Jungen, die der Mutter des Mädchens oder die des Grossvaters. In solchen Rollenspielen erfahren die Jugendlichen, welchen gesellschaftlichen Zwängen sie unterworfen sind. Sie erleben, dass andere Geschlechterverhältnisse möglich sind und dass sie die Handlungsmacht haben, um mit Mustern zu brechen und ihre eigene Realität zu gestalten.

Die heutige Gruppen-Leiterin Lucía2 erzählt begeistert: «Ich habe selbst mit 16 Jahren geheiratet. Mit 20 kam ich zu den Alphabetisierungskursen des Frauenkollektivs. Danach konnte ich die Schule beenden und mich weiterbilden. Heute arbeite ich als Lehrerin. Es ist wunderbar, den Jugendlichen neue Perspektiven aufzuzeigen und zu sehen, wie sie ihr Leben in die Hand nehmen.»

1 Zahlen von Católicas por el Derecho a Decidir
2 Name von der Redaktion geändert.