Nach einem Rückgang aufgrund der Pandemie nimmt die Migration seit 2021 in Mexiko wieder stark zu. In überlebenswichtigen Migrant*innen-Herbergen leisten die medico-Partnerorganisationen SADEC und CCTI medizinische und psychologische Betreuung.

Alice Froidevaux

Auf der Fahrt zu einem Projektbesuch ausserhalb der südmexikanischen Stadt Palenque kommt uns ein Pick-Up mit Menschen auf der Ladefläche entgegen. «Das ist eine Gruppe Migrant*innen,» erklärt uns Saúl Hernández, Gesundheitspromotor bei Salud y Desarollo Comunitario (SADEC), «man erkennt sie, an den Dingen, die sie dabeihaben.» Kurz darauf passieren wir eine Migrantin, die mit ihrem Kind zu Fuss Richtung Stadt läuft. Und dann eine kleine Gruppe junger Männer, die nichts mit sich tragen ausser einer umgehängten Flasche Wasser.

«Für uns ist das leider ein gewohntes Bild,» sagt Saúl, «viele können sich keinen ‹Schlepper-Transport› über die Grenze leisten. Und wir dürfen nicht helfen!» Privatpersonen, die Migrant*innen eine Mitfahrgelegenheit bieten, droht in Mexiko eine mehrjährige Gefängnisstrafe wegen Menschenhandel. Gleichzeitig arbeitet die lokale Polizei mit den Schleppern zusammen und verdient mit am Geschäft mit Flüchtenden.

Medizinische Versorgung

Die Gruppe der Migrant*innen ist in den letzten Jahren diverser geworden. Die Mehrheit stammt weiterhin aus zentralamerikanischen Ländern. Vermehrt erreichen aber auch Menschen aus Haiti, Kuba und afrikanischen Ländern Mexiko. Zudem wollen immer mehr Migrant*innen bleiben. «Während Mexiko früher klar ein Transitland war, ist es heute auch Einwanderungsziel. Unter dem aktuellen Präsidenten López Obrador wurde die Einreise erleichtert und Einwander*innen erhalten einfacher eine Arbeit. Diese Politik ist jedoch in erster Linie eine Eindämmungsstrategie, damit die Migrant*innen nicht weiter in die USA reisen. Für die meisten haben sich die Lebensumstände kaum verbessert. Weiterhin werden viele zurückgewiesen,» schildert Mariana Echeverría, Ärztin im Team von SADEC.

Dieses Bild bestätigt sich bei unserem Besuch in der Casa del Caminante in Palenque. Wie die meisten Migrant*innen-Herbergen in Mexiko wird auch diese von einem christlichen Orden geführt. «Wir haben hier zwei Bereiche,» erklärt die leitende Schwester Paz Chávez Medina, «einen für Durchreisende, die hier ihre Kleider waschen, sich ausruhen und etwas essen können, und einen zweiten für diejenigen, die einen Antrag stellen, um in Mexiko zu bleiben.» Im kleinen Gesundheitsposten der Herberge können sich die Migrant*innen medizinisch versorgen lassen und sie erhalten psychologische Unterstützung. Im Rahmen ihres Praktikant*innen-Programms konnte SADEC bereits mehrere junge Ärzt*innen vermitteln, die ihren Sozialdienst in der Casa del Caminante absolvieren. Zudem unterstützt SADEC den Gesundheitsposten mit Medikamenten. «Hier werden vor allem kleine Behandlungen durchgeführt. Viele Migrant*innen sind stark dehydriert und haben entzündete Blasen an den Füssen,» führt Schwester Paz aus. Schwierige Fälle werden ins Spital oder an die psychiatrischen Dienste von Ärzte ohne Grenzen überwiesen, die mit der nationalen Migrationsverwaltung zusammenarbeiten. «In Mexiko haben Migrant*innen das Recht auf medizinische Versorgung. Wir müssen sie jedoch begleiten, sonst werden sie in den Spitälern oft abgewiesen oder schlecht behandelt. Besonders hart trifft das Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben,» so Schwester Paz. Deshalb überweist die Herberge diese Frauen, wenn immer möglich, direkt an den von SADEC geleiteten Frauengesundheitsposten der Casa de la Mujer in Palenque. «Wir unterstützen, wo wir können!» betont Mariana.

Kollektiver Druck

Fernando Valadez, Psychiater und Mitgründer vom Colectivo Contra la Tortura y la Impunidad (CCTI), forscht zu Misshandlung und Folter in Ausschaffungszentren. «Aus Angst vor Konsequenzen für die Befragten, konnten wir die Interviews nicht in den Zentren durchführen. Stattdessen sprechen wir mit Personen in Flüchtingsherbergen, die schon einmal in Ausschaffungshaft sassen,» erklärt er uns, «denn viele machen die beschwerliche Reise nicht zum ersten Mal. Wenn sie zurückgewiesen werden, begeben sie sich erneut auf den Weg.»

90% der Befragten berichten von Misshandlungen oder Folter im Ausschaffungszentrum. Anzeige erstatten die wenigsten. «Viele kennen ihre Rechte nicht oder wissen nicht, wo Anzeige zu erstatten. Oftmals fürchten sie sich auch davor, rechtliche Schritte zu unternehmen, weil sie irgendwann nach Mexiko zurückkehren wollen,» erzählt Fernando. Neben der Dokumentation solcher Missstände, engagiert sich CCTI in der Sensibilisierung der Öffentlichkeit: «Nur wenn die Bevölkerung informiert ist, kann sie kollektiven Druck ausüben und Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für Betroffene fordern!»

Überlebenstechniken

Zur psychologischen Unterstützung bietet Fernandos’ Team den Migrierenden auch Gruppensitzungen an. «Da viele auf der Durchreise sind, bleibt es oft bei einem einzigen Treffen. Wir nennen das ‹Mikrotherapie›,» erläutert der Psychiater, «im Fokus steht die Bewusstseinsarbeit. Die Teilnehmenden erzählen, was ihnen passiert ist und gemeinsam erörtern wir, was noch auf sie zukommen wird. Wichtig ist es, Emotionen zu benennen, sie zuzulassen und nicht zu patologisieren. Für uns gibt es keine negativen Gefühle. Angst, Wut, Trauer, Melancholie… das sind zwar unangenehme, aber völlig natürliche Emotionen.»

Auf die Weiterreise gibt Fernando den Migrant*innen kleine Anti-Stress-Übungen mit. «Es ist erstaunlich, was eine Atemübung oder eine bewusste Gedankenreise nach Hause zur Familie bewirken kann! Auch alle zwei bis drei Stunden die Augen für einen Moment zu schliessen, hilft den Organismus zu beruhigen. Der Körper denkt, es ist Schlafenszeit und senkt die Hormone, die Stress auslösen,» so Fernando. «Wir machen also keine klassische Psychotherapie. Eher eine Beratung. Wir zeigen den Menschen Techniken, die helfen zu überleben!»