Wenn Ann-Lee und Olivia vom Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit (CCTI) ihrer Arbeit nachgehen, ist dies eine doppelte Herausforderung: Sie begleiten Folteropfer oder Angehörige von Verschwundenen und sie tun dies als Frauen*. medico international schweiz hat mit den beiden Psychologinnen über ihre Rolle in der Gesundheitsarbeit gesprochen – und über die Verletzlichkeit der Frauen*, die sie begleiten.

Judith Huber & Martin Hesse

Das Kollektiv CCTI ist eine der wenigen Menschenrechtsorganisationen im mexikanischen Bundesstaat Guerrero, wo die Repression sozialer Bewegungen und der blutige Drogenkrieg Hand in Hand gehen. Die Organisation gilt in der Region als Referenz für medizinische und psychosoziale Begleitung. Dennoch ist die psychosoziale Arbeit für den Grossteil der Bevölkerung noch immer etwas Unbekanntes. «Es ist auch sehr ungewöhnlich, dass Frauen* diese Arbeit machen,» sagt Olivia, «denn begleitet werden oftmals eher ältere Personen und in der Mehrheit Männer. Für sie passt es nicht ins Bild, dass Frauen* solchen Tätigkeiten nachgehen, vor allem wenn sie Familie haben.»

Ann-Lee und Olivia versuchen stetig machistisches Verhalten zu benennen und sichtbar zu machen. Dabei beobachten sie, dass der Machismo kulturell tief in der Gesellschaft verankert ist und auch vor der eigenen Organisation nicht Halt macht, obschon das Personal von CCTI seit mehreren Jahren regelmässig an Workshops zu geschlechterspezifischer Diskriminierung und Gewalt teilnimmt. «Für uns ist es sehr schwierig, dass sich die Personen, die wir begleiten, oftmals lieber an die Männer im Team richten als an uns Frauen*. Und es ist immer noch so, dass die meisten NGOs von Männern geführt werden,» bedauern Olivia und Ann-Lee.

Frauen* sind mehrfach verletzbar

Die Frauen*, die CCTI begleitet, leiden zusätzlich zu den Folgen traumatischer Gewalterlebnisse oder dem Verlust von Angehörigen auch unter Machismo und den engen Wertvorstellungen ihres Umfeldes. Ehefrauen von Verschwundenen zum Beispiel haben oft damit zu kämpfen, dass ihre Familienmitglieder sie stark unter Druck setzen, und diktieren, wie sie ihr Leben zu leben haben. Frauen*, die inhaftiert waren und überlebende von Folter sind, werden häufig doppelt misshandelt: «Viele Frauen* erleben in Gefangenschaft sexualisierte Gewalt. Ein Mann erlebt Folter, aber eine Frau*, weil sie eine Frau* ist, wird zusätzlich Opfer von sexueller Folter. Das Frau*-Sein kennzeichnet dich,» betont Ann-Lee. Zudem wird Frauen* oft unterstellt, sie seien selber Schuld: «Sie hätten sich wohl einfach mit den falschen Personen eingelassen. Viele Familien distanzieren sich von den weiblichen Opfern oder lassen sie ganz fallen. So müssen sie nach der Haft-entlassung meist ein komplett neues Leben ohne familiäres Netz aufbauen.»

Der Fall María de los Angeles

Die psychosoziale Begleitung von MarÌa de los Angeles hat Ann-Lee und Olivia in den letzten Monaten besonders geprägt. Angeles, wie sie genannt wird, war zehn Jahre im Gefängnis und wurde vor eineinhalb Jahren in die Freiheit ent-lassen. CCTI begleitet sie seit 2005. Aufgrund ihres Aktivismus für den Erhalt von Grund und Boden wurde Angeles zuerst verschleppt und gefoltert, bevor sie dann schliesslich inhaftiert wurden. Angeles leidet seit länge-rer Zeit unter chronischem Asthma und, wie sich nach der Haft herausstellte, an Herzproblemen. Doch im Gefängnis wurde sie ungenügend medizinisch versorgt. Beim Arztbesuch, wurde eine «Angina Pectoris» (Herzenge) diagnostiziert. Durch die Hilfe von CCTI ist Angeles heute in einem Allgemeinkrankenhaus eingeschrieben und versichert und sie ist in einer Therapie, um einem möglichen Herzinfarkt vorzubeugen. Im April kann sie sich voraussichtlich gegen Covid-19 impfen lassen.

Ann-Lee und Olivia haben Angeles in den letzten Monaten sehr eng begleitet und ihre Sorgen und Ängste mitgetragen. Das Beispiel macht deutlich, dass die psychosoziale Begleitung genauso wichtig ist, wie die medizinische. «Bei uns erleben die Frauen*, dass sie nicht alleine sind, dass ihr Schicksal gehört wird und dass sie Rechte haben, die sie einfordern können,» bekräftigen die beiden Mitar-beiterinnen von CCTI. Die Nähe und persönliche Verbundenheit zu den Menschen, die sie begleiten, stärken auch die Psychologinnen selber: «Es gibt uns neue Motivation, zu sehen, dass wir im Leben von Frauen* wie Angeles einen Unterschied machen können.»

SADEC und CODIGO-DH

Auch die beiden anderen medico-Partnerorganisationen in Mexiko arbeiten auf verschiedenen Ebenen für die Emanzipation von Frauen*. CODIGO-DH ist gar eine reine Frauen*organisation. Für die Koordinatorin Sara Mendez ist dies kein Zufall: «Die spezifischen Benachteiligungen motivieren viele Frauen*, Menschenrechtsarbeit zu machen.» Zwar ist auch das Frauen*-Team von CODIGO-DH in der Arbeit im Feld noch immer häufig mit Diskriminierungen konfrontiert, durch Beständigkeit und Einfühlsamkeit tragen sie jedoch Schritt für Schritt dazu bei, dass spezifische Bedürfnisse von Frauen* besser erkannt und stereotype Frauen*bilder überwunden werden.

Auch bei SADEC hat die Arbeit von und für Frauen* ein starkes Gewicht. Seit den Anfängen werden Frauen* in der Schwangerschaft begleitet. Mit dem Einbezug und Respekt für traditionelle Methoden stärkt SADEC einen basisorientierten Ansatz: «Gesundheit für alle zu ermöglichen, heisst, nicht von oben herab zu definieren, was richtig ist und lokales Wissen in die öffentlichen Gesundheitssysteme einzubeziehen,» so Mariana vom Team. Während der Covid-Pandemie wurden wieder vermehrt Geburten von traditionellen Hebammen begleitet: «Das zeigt eindrücklich die Kraft und Resilienz der zapatistischen Gemeinschaften.»