Die medico-Projektpartner*innen in Mexiko sind weiter stark mit der Corona-Pandemie beschäftigt und von der grassierenden Gewalt, Straflosigkeit und Korruption bedrängt. Trotzdem führen sie ihre Gesundheits- und Menschenrechtsarbeit mit viel Entschlossenheit weiter.

Judith Huber & Martin Hesse

Nach drei Jahren Amtszeit von Präsident López Obrador, bekannt als AMLO, lassen sich gewisse positive Entwicklungen nicht leugnen. Viele alte Seilschaften zwischen Wirtschaft und Politik wurden beendet. Heute müssen Grossunternehmen endlich Steuern bezahlen und neue, unabhängige Gewerkschaften erstarken. Dennoch vermag es AMLO nicht, gegen die organisierte Kriminalität und mächtigen Bergbaufirmen anzukommen. Die Umsetzung von wirtschaftlichen Grossprojekten ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung und die Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen bleiben ein riesiges Problem. Der Bundesstaat Guerrero ist in den Händen der organisierten Kriminalität. In Chiapas, das lange sehr geringe Gewaltraten aufwies, kam es im letzten Jahr vermehrt zu Territorialstreitigkeiten und bewaffneten Angriffen auf autonome zapatistische Gemeinden. Als Folge – und nicht zuletzt, weil die Armee die Covid-19-Impfkampagne durchführt – hat auch die Militarisierung der Gesellschaft zugenommen. «AMLO regiert leider gleich wie seine Vorgänger: Mit Militarisierung im Namen der Sicherheit,» so die Psychologin Olivia Reyes aus Guerrero.

Die Pandemie hat Mexiko hart getroffen. Als 5. Land weltweit zählt Mexiko über 300’000 Corona-Todesopfer. Viele geben AMLOs lascher Corona-Politik die Schuld. Doch es gibt auch andere Effekte der Pandemie. So fanden lokale Produkte wieder mehr Absatz und neue Wertschätzung. Und es war beachtlich, wie die ländlichen Gebiete einen Grossteil der wirtschaftlichen Folgen von Corona zumindest kurzfristig aufzufangen vermochten. Viele Arbeitsmigrant*innen kehrten aus den urbanen Zentren in ihre Heimatdörfer zurück und fanden dort Zuflucht und Verpflegung.

Zusammenhalt im Team

Auch das von medico unterstützte Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit (CCTI) erlitt im Jahr 2021 schwere Verluste. Mitglieder, Familienangehörige und Freund*innen sind am Coronavirus gestorben. Eine besonders grosse Lücke hinterlässt der Arzt und Menschenrechtsverteidiger Javier Enríquez. Der Mitgründer und ehemalige Koordinator von CCTI starb im Januar an den Folgen der Covid-19-Erkrankung. «CCTI verlor heute eine tragende Säule. Wir haben einen Arzt verloren, einen unermüdlichen Kämpfer für eine gerechtere Gesellschaft, einen Freund und Lehrer,» heisst es im Nachruf auf Javier. Zusätzlich zur Pandemie hat im September ein Erdbeben den Bundesstaat Guerrero erschüttert. Die Häufung belastender Ereignisse hat die Mitarbeitenden von CCTI an ihre Grenzen gebracht. Doch dank dem solidarischen Zusammenhalt im Team gelang es, die medizinische und psychosoziale Begleitung von Folterüberlebenden und Angehörigen von Verschwundenen aufrechtzuerhalten. Hoffnung für die Zukunft sieht Raymundo Díaz, Koordinator von CCTI in Acapulco, im Wiedererstarken sozialer Bewegungen, die weiterhin lautstark die Straflosigkeit, das gewaltsame Verschwindenlassen und aussergerichtliche Hinrichtungen anprangern.

Kriminalisierung von Aktivist*innen

«Der Staat vermag es kaum, Aktivist*innen vor kriminellen Übergriffen zu schützen,» sagt Sara Mendez, Koordinatorin der Menschenrechtsorganisation CODIGO-DH, die seit vielen Jahren mit medico zusammenarbeitet. In der Gemeinde Ayutla Mixe unterstützt sie seit mehreren Jahren eine Frauengruppe in ihrem Kampf um Zugang zu Wasser. 2021 kam es im interkommunalen Rechtsstreit um die einzige Quelle zu einer heftigen Eskalation. Die Gemeindebehörden vereitelten durch interne Absprachen die Lösungsvorschläge der Aktivist*innen und diffamierten die Wasserrechtsverteidiger*innen öffentlich. «In solchen Fällen zeigt sich, wie verschiedene mächtige Akteur*innen und somit Korruption, Verfolgung von Menschenrechtsverteidiger*innen und Straflosigkeit zusammenspielen. Für Gerechtigkeit einzustehen, bleibt in Mexiko sehr gefährlich. Aber die Notwendigkeit ist grösser als unsere Angst,» erklärt Sara, die keineswegs positiv in die Zukunft blickt. «Im Wahljahr 2022 erwarten wir im Bundesstaat Oaxaca einen weiteren Anstieg der Konflikte.»

Enthusiasmus für die Basismedizin

Die medico-Partnerorganisation SADEC arbeitet in der Basisgesundheitsversorgung in den ländlichen Gebieten im Bundesstaat Chiapas. Joel Herredia, Arzt bei SADEC, blickt mit Sorge auf die neueste Corona-Welle: «Ein Grossteil der Bevölkerung auf dem Land ist nicht geimpft. Die erhöhte Gefährdung durch das hochansteckende Omikron für junge Menschen beunruhigt mich sehr.» Nicht nur sind viele Menschen im Gesundheitsdienst am Virus erkrankt, in Folge der Pandemie sind auch 80% der Voluntär*innen ausgeblieben, die als Teil ihrer medizinischen Ausbildung SADEC in der Gesundheitsarbeit in den zapatistischen Gemeinden unterstützen. «Das Fehlen der ehrenamtlichen Jungärzt*innen war gravierend und hat einmal mehr die wichtige Rolle traditioneller Naturheiler*innen und Hebammen in den ländlichen Gemeinden bestätigt,» betont Joel. Dennoch gibt es auch Fälle, die eine schulmedizinische Behandlung erfordern. Mit bewundernswertem Enthusiasmus leisten die festangestellten Ärzt*innen von SADEC seit Monaten Überstunden, um die prekäre Lage so gut wie möglich abzufedern. Zusätzlich unterstützt SADEC seit zwei Jahren die Klinik des Frauenzentrums und eine Migrant*innenherberge in der Stadt Palenque.