In Gaza ist die Zerstörung von Gesundheitsstrukturen längst kein Kollateralschaden mehr, sondern wesentlicher Bestandteil des Genozids. Wo Krankenhäuser bombardiert werden, verlieren Menschen ihre lebenswichtige Behandlung sowie ihren letzten Zufluchtsort.

Alice Froidevaux

Das beschädigte Hauptzentrum der PMRS in Tel Al-Hawa, Gaza-Stadt, Januar 2025. Im September wurde es erneut bombardiert.

«Zugang zu medizinischer Versorgung ist ein Grund, warum Menschen bleiben», berichtet Dr. Bassam Zaqout von der Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Im Zuge der israelischen Grossoffensive sahen sich er und seine Teams im September 2025 gezwungen, Gaza-Stadt zu verlassen. «Viele sagten uns: Wenn die PMRS ihre Zentren schliesst, gehen auch wir.»

Medizid

In ihrem Bericht «Destruction of Life: A Health Analysis of the Gaza Genocide» dokumentiert die medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel (PHRI) die «kalkulierte und systematische Demontierung» des Gesundheitssystems in Gaza seit Oktober 2023 im Kontext einer seit Jahren bestehenden «medizinischen Apartheid», in der Israel das Gesundheitswesen in den palästinensischen Gebieten umfassend kontrolliert.
In einem Statement vom August 2025 bezeichneten UN-Expert*innen die gezielte Zerstörung des Gesundheitssystems in Gaza als zentralen Bestandteil des laufenden Genozids: «Neben dem Zeugnis eines anhaltenden Genozids werden wir auch Zeugen eines ‹Medizids› – einer perfiden Strategie, bei der gezielt Bedingungen geschaffen werden, die auf die Vernichtung der Palästinenser*innen in Gaza abzielen […]. Gesundheits- und Pflegekräfte werden systematisch angegriffen, inhaftiert, gefoltert und so wie die übrige Bevölkerung gezielt ausgehungert.» Während nach dem ersten Luftangriff auf den Parkplatz des Krankenhauses Al-Ahli im Oktober 2023, bei dem Hunderte getötet wurden, noch umstritten war, ob Israel zu einem solchen Angriff fähig sei, sind Bilder zerstörter Krankenhäuser in Gaza inzwischen brutale Routine geworden.

Terror-Rhetorik als Waffe

Die israelische Regierung macht längst keinen Hehl mehr aus diesen Angriffen. Sie folgen stets demselben Muster: unrealistisch kurze Evakuierungsaufforderungen, gefolgt von unverhältnismässig massiven Bombardierungen. Begründet werden sie mit der angeblichen Präsenz von Hamas-Kämpfern oder Kommandostellen – Beweise dafür? Bis heute Fehlanzeige.

Diese Argumentation folgt einem global etablierten Muster: dem seit 2001 von den USA ausgerufenen «Krieg gegen den Terror». Dieses Narrativ verwischt die Grenze zwischen Kombattant*innen und Zivilist*innen und erklärt das Gegenüber nicht mehr zur Kriegspartei mit Rechten, sondern zum «auszulöschenden Feind». Unter diesem Vorwand wurden im sri-lankischen Bürgerkrieg 2009 Spitäler bombardiert, die USA zerstörten 2015 ein Krankenhaus von «Ärzte ohne Grenzen» in Afghanistan, und die Türkei rechtfertigt seit Jahren Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in Nordostsyrien mit dem Kampf gegen «kurdischen Terror».

Obwohl medizinisches Personal und Einrichtungen unter besonderem völkerrechtlichen Schutz stehen, geraten sie weltweit immer stärker ins Visier. Laut der Safeguarding Health in Conflict Coalition (SHCC) wurden 2024 3623 Angriffe auf das Gesundheitswesen registriert – 15 Prozent mehr als 2023 und 62 Prozent mehr als 2022. Besonders betroffen waren der Libanon, Myanmar, der Sudan, die Ukraine und die besetzten palästinensischen Gebiete, insbesondere Gaza.

Zum Schweigen bringen

Über 1800 Gesundheitsarbeiter*innen hat Israel im laufenden Genozid getötet oder willkürlich inhaftiert; Berichte über Folter in Gefängnissen zeigen das Ausmass der Repression. Das von humanitären Organisationen eingeforderte Prinzip «der Arzt deines Feindes ist nicht dein Feind» ist ausser Kraft gesetzt. Medizinisches Personal wird nicht nur verfolgt, weil es Leben rettet, sondern auch, weil es Zeugnis ablegt. Ärzt*innen dokumentieren Verletzungen, berichten über Kriegsverbrechen und widersprechen so Propaganda und Entmenschlichung. Ihre Zeugenschaft wird damit zu einer Bedrohung für die Angreifenden.

Am 17.Oktober 2025 hat ein israelisches Gericht trotz des verkündeten Waffenstillstands die Fortsetzung der Inhaftierung von Dr. Hussam Abu Safiya, Direktor des Spitals Kamal-
Adwan, angeordnet. Er wird seit Dezember 2024 ohne Anklage festgehalten – gemeinsam mit mindestens 17 weiteren Ärzt*innen und Dutzenden Pflegekräften. Menschenrechtsorganisationen fordern die sofortige Freilassung: «Ihre Inhaftierung untergräbt weiter das Recht der Palästinenser*innen auf Gesundheit», so PHRI.

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

Die verkündete Waffenruhe in Gaza ist brüchig und bringt kaum Ruhe. Auf  erste Erleichterung folgte Ernüchterung: Gaza liegt in Trümmern, es fallen weiter Bomben, Hilfslieferungen bleiben begrenzt, Lebensgrundlagen sind zerstört. Die Zerstörung des Gesundheitswesens und die gezielte Tötung medizinischen Personals haben langfristig katastrophale Folgen. Selbst bei einem Wiederaufbau sind die verlorenen Fachkräfte kaum zu ersetzen. Abhängigkeiten von Geberländern und Hilfsorganisationen werden verstärkt, die Gesundheitsversorgung bleibt ein Kontrollinstrument für die Besatzungsmacht Israel.

Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen setzen wir uns weiterhin für das Recht auf Gesundheit ein. Das bedeutet, akute Bedürfnisse zu decken – vor allem den freien Zugang zu humanitärer Hilfe, Medikamenten, Material und Personal zu sichern – und zugleich den langfristigen Wiederaufbau zu fördern. Dabei darf es kein «Zurück zur alten Normalität» geben, in der das palästinensische Gesundheitswesen von Abhängigkeiten, israelischen Genehmigungen und wiederkehrender Zerstörung geprägt war. «Gesundheit für alle» in Gaza ist nur möglich mit Friedensperspektiven, die auf Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, dem Ende der Besatzung und der Aufarbeitung der Verbrechen aller Parteien beruhen.