In Chiapas hat die Gewalt gegen die indigene Bevölkerung und organisierte Gemeinden dramatisch zugenommen. Was können sie der Eskalation entgegensetzen? Und wie ist die medico-Partnerorganisation SADEC betroffen?
Philipp Gerber & Alice Froidevaux
Die indigene Organisation Las Abejas de Acetal eröffnet ein «Friedenscamp» für Vertriebene in Chiapas
Chiapas galt lange als sicherer Bundesstaat im Vergleich zu anderen Regionen Mexikos. In den letzten Jahren hat sich das grundlegend geändert. Regelmässig kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Kartellen. Aber auch andere bewaffnete Akteur*innen sind an der Gewalteskalation beteiligt, zudem sind das Militär und die Nationalgarde präsent. «Die Gewalt macht das Leben unmöglich, besonders in der Grenzregion zu Guatemala: Märkte sind geschlossen, Grundlebensmittel teils unerschwinglich, Strassenblockaden schränken die Mobilität ein, Nahverkehrsunternehmen stellen den Betrieb ein», erklärt Saúl Hernández, Gesundheitspromotor der medico-Partnerorganisation SADEC. Viele sehen sich gezwungen ihr Zuhause, Hof und Vieh aufzugeben. Rund 10000 Menschen gelten in Chiapas als intern vertrieben.
Mit dem bewaffneten Aufstand der Zapatist*innen am Tag des Inkrafttretens eines Freihandelsabkommen mit den USA gelangte Chiapas 1994 in den Fokus der weltweiten Öffentlichkeit. Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) wurde zum Bezugspunkt internationaler Solidarität. Weniger bekannt sind die darauffolgenden Strategien zur Aufstandsbekämpfung, mit denen bis heute versucht wird, die sozialen Strukturen der indigenen Gemeinden zu zerschlagen. In den 1990er Jahren geschah dies durch die unmittelbare Gewalt paramilitärischer Einheiten und des Militärs. Anfang der 2000er folgten subtilere Methoden wie die Korrumpierung lokaler Autoritäten, Desinformation und selektive Vergabe von staatlichen Subventionen, die zur Spaltung von Gemeinden führten. Beide Strategien haben bis heute vielschichtige Konflikte hinterlassen.
Ein Schlüsselmoment für die Eskalation der Gewalt in den letzten Jahren war die Tötung des Regionalchefs des Sinaloa-Kartells. Seitdem versucht das Kartell «Jalisco Nueva Generación», Handelsrouten und Knotenpunkte in Chiapas zu erobern. Doch die Gewalt geht weit über diesen Kartellkonflikt hinaus. Die Verlagerung der Migrationsrouten aufgrund von US-Abkommen mit Mexiko und Guatemala zwingt immer mehr Menschen aus Zentralamerika, Venezuela und Haiti, abgelegene Wege durch Chiapas nach Norden zu wählen. Dies verschiebt die ökonomischen, territorialen sowie politischen Interessen von Kartellen, Militär und lokalen Politiker*innen entlang alter und neuer Routen.
Gleichzeitig investiert die mexikanische Regierung verstärkt in Infrastruk-turvorhaben im Süden des Landes, darunter das Tourismusprojekt Tren Maya. Diese Vorhaben führen zu Spannungen zwischen indigenen Gemeinschaften, Unternehmen und der Regierung. Seit 2018 hat die Militarisierung in der Region zugenommen, wobei die Armee gewaltsam Projekte schützt, die häufig die Lebensgrundlagen der Bevölkerung gefährden.Die verstärkte Militärpräsenz verändert die lokalen Routen der Migration, was die Auseinandersetzungen zwischen Kartellen um die Kontrolle von Menschen, Drogen und Gütern weiter verschärft. Wie im ganzen Land herrschen auch hier Straflosigkeit, eine schwache staatliche Präsenz und teils enge Verbindungen zwischen lokalen staatlichen Akteur*innen und kriminellen Gruppen.
Gedenkstätte für die Opfer der eskalierenden Gewalt in Chiapas
«Die Gewalt hat eine neue Dimension erreicht», sagt der Koordinator von SADEC Joel Heredia, «auch nach dem Aufstand der Zapatist*innen galt die Region teilweise als ‹gefährlich›. Doch wir erlebten keinen einzigen Zwischenfall. Die Verhältnisse waren klarer, die Akteur*innen stammten aus der Gegend, und als Gesundheitspersonal genossen wir Ansehen und Schutz. Heute kommen die Agressor*innen von überall und haben keinen Respekt vor niemandem.» Zudem seien die kriminellen Gruppen immer besser bewaffnet. Einige selbstverwaltete Gemeinden und das EZLN wehren sich noch, doch es sei fraglich, wie lange sie der Gewalt und Infiltrierung noch standhalten können, meint Joel.
«Die Bedürfnisse der Bevölkerung in Sachen Gesundheitsvorsorge sind gross, doch wir mussten neue Sicherheitsrichtlinien für unsere Teams im Feld einführen. Es ist ein ständiges Abwägen», erklärt Joel. Zum Glück sind die Hauptarbeitsgebiete von SADEC nicht am schlimmsten betroffenen. Die Situation hat vor allem Auswirkungen auf das Programm mit den Medizin-Studierenden, die SADEC betreut. «Weniger Studierende haben Interesse an einem Sozialdienst in Chiapas und die Universität hat die Aktivitäten aufgrund der Gewalt in einigen Regionen ausgesetzt», fügt der Koordinator an, «wir müssen die Situation ernst nehmen und dürfen das Ausmass des Problems nicht aus den Augen verlieren. Es besteht die Gefahr, die Gewalt zu normalisieren, wenn man ständig mit ihr lebt. Gleichzeitig instrumentalisieren die Medien und die rechte Opposition die Lage, um die aktuelle Regierung zu delegitimieren.»
Die Regierung von Manuel López Obrador habe die Situation in Chiapas zu lange heruntergespielt, warnen die Kolleg*innen von SADEC. Dies prangern landesweit auch indigene Gemeinden, Organisationen sowie Menschenrechtsaktivist*innen an. In einer gemeinsamen Erklärung schreiben sie: «Die Versprechen, die diese Regierung den indigenen Völkern gemacht hat, wurden nicht eingehalten. Im Gegenteil, die Invasion in unsere Gebiete hat in alarmierendem Masse zugenommen und die Reichweite der Kartelle des organisierten Verbrechens vergrössert.» Es braucht eine klare Antwort der neuen Präsidentin Claudia Sheinbaum und den politischen Willen, die Verstrickungen staatlicher Institutionen, der Wirtschaft und der organisierten Kriminalität aufzulösen. Nur so kann die Regierung die Kontrolle zurückgewinnen, ihrer Pflicht zur Gewährleistung der Sicherheit nachkommen und die Selbstbestimmungsrechte der indigenen Bevölkerung sichern.