Es sind historische Momente für die Bevölkerung in Guatemala. Seit dem überraschenden Wahlsieg des Präsidentschaftsduo Bernardo Arévalo und Karin Herrera des sozialdemokratischen «Movimiento Semilla» überschlagen sich die Ereignisse geradezu. Der Traum eines anderen Guatemalas ist zum Greifen nah.

Alice Froidevaux

Seit Montag 2. Oktober steht das ganze Land still. Der Aufruf zum Protest durch Blockaden wichtiger Verkehrspunkte kam zuerst von den «48 Kantonen», eine indigene Verwaltungsstruktur aus dem überwiegend von Indigenen bewohnten Hochlanddepartament Totonicapán. Ihm schlossen sich schnell praktisch alle anzestralen Autoritäten des Landes, die für die aktuelle und historische Struktur des indigenen Widerstandes stehen, und schliesslich auch städtische soziale Bewegungen an. Der Menschenrechtsanwalt Miguel Mörth schreibt in seiner Kolumne für das Guatemalanetz Bern: «Tausende versperrten die Strasse, bauten Strukturen für die Versorgung auf und begannen ein Volksfest, das langsam auf das ganze Land übergriff. Am Dienstag wurden es immer mehr Blockaden, aber es war klar: Der Funken muss vor allem auf die Hauptstadt überspringen, die die indigenen Rebellionen oft im besten Fall mit Argwohn betrachtet hat. Deshalb hatten die indigenen Autoritäten von Anfang an entschieden, den Sitz der Generalstaatsanwaltschaft im Zentrum der Hauptstadt zum zweiten Symbol [der Proteste] zu machen und hier ihr Operationszentrum aufzubauen. Erst folgten Hunderte dem Aufruf, dann Tausende. Das Ministerio Público war umstellt.» Die Forderung, die einen Grossteil der Bevölkerung spätestens seit dem 2. Oktober eint: Die korrumpierte Generalstaatsanwältin Consuelo Porras und weitere korrupte Staatsanwälte und Richter, die den Machtwechsel aktiv verhindern wollen, müssen gehen!

Langersehnte Welle der Hoffnung


Weder Analyst*innen noch die sozialen Bewegungen hatten mit diesem Sieg von Bernardo Arévalo und Karin Herrera gerechnet – und offenbar auch nicht die Machtelite, sonst hätten sie die Kandidatur wohl bereits im Vorfeld verhindert, so wie sie es mit anderen Herausforderer*innen taten. Der linke Überraschungssieg löste in Guatemala eine langersehnte Welle der Hoffnung aus. Die Bevölkerung hatte ein klares Zeichen gesetzt und endlich konnte wieder daran geglaubt werden, dass Veränderung möglich ist. Die grossen Wahlfeiern waren eine verdiente Genugtuung für die vielen Menschenrechts- und Umweltverteidiger*innen, indigenen Gemeinden, Jurist*innen, Journalist*innen, Frauenorganisationen und Studierenden, die seit Jahren für ihre Rechte und für ein demokratisches, plurinationales Guatemala kämpfen. Ein neuer guatemaltekischer Frühling war eingeläutet – Florecerás Guatemala hiess es erneut auf den Strassen und auch in den sozialen Medien. Die direkte Verbindung des Namens Arévalo zum ersten demokratischen Frühling Guatemalas (Bernardo’s Vater José Arévalo wurde 1944 zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten) und der Name der Partei «Semilla» [Saatgut] trugen ihr Weiteres bei zur grossen Welle der Hoffnung. Von dieser getragen scheinen die linken Kräfte des Landes so geeint wie nie.

Ein langer Weg mit vielen Hürden

Doch schnell wurde klar, wie fest die herrschende Elite und der sogenannte «Pakt der Korrupten» das Land im Griff haben, und dass sie bereit sind, alles zu tun, um ihre Macht zu behalten. Schon vor dem zweiten Wahlgang versuchten sie, Arévalo und Herrera auf alle möglichen Arten zu sabotieren. Nach dem zweiten Wahlgang gestand Sandra Torres ihre Niederlage nicht ein und ihre Partei UNE reichte Klage wegen Wahlbetruges ein. In der Zwischenzeit hat das Oberste Wahlgericht das Wahlresultat zwar anerkannt – gleichzeitig wurde jedoch Arévalos Partei «Semilla» suspendiert. Am Wahlergebnis ändert dies vorerst nichts. «Nichts kann uns rechtlich daran hindern, unser Amt am 14. Januar 2024 anzutreten, so wie es die Verfassung vorsieht. Dies ist ein historischer Moment für ein Volk, das an die Urnen und dann auf die Strassen und Plätze des ganzen Landes gegangen ist, um den Beginn eines neuen Frühlings zu feiern,» zitierte El País Arévalo.

 
Das Regieren wird für das sozialdemokratische Duo so oder so eine riesige Herausforderung, ohne Mehrheit im Kongress und ohne unabhängige Judikative. Dazu kommen die Verbandelungen zwischen politischer und ökonomischer Elite, der organisierten Kriminalität und den mächtigen evangelikalen Kirchen… «Es wird einen langen Prozess der Rekonstruktion brauchen, denn die Diktatur ist sehr tiefgreifend,» so der bekannte guatemaltekische Jurist, Ramon Cadena. Für ihn war schon vor dem zweiten Wahlgang auch klar: Die Menschen in Guatemala müssen sich weiterhin organisieren und ihren Widerstand artikulieren. 

Proteste halten an


Und genau das tun sie! Die oben beschriebenen Proteste wurden immer grösser und die Solidarität ist enorm. Unterstützer*innen brachten Stühle, Zelte, Matratzen. Es wurden sanitäre Anlagen organisiert, es wird Essen gekocht, Getränke werden verteilt und für medizinische Versorgung wird gesorgt. Es wird getanzt, Theater gespielt, gemeinsam Yoga gemacht… Am Montag, 12. Oktober äusserte sich der scheidende Staatspräsident Alejandro Giammattei nach einer Woche erstmals zu den Ereignissen. Es war eine Hassrede gegen die Demonstrierenden und gegen Randalierer, die vom Ausland geleitet und bezahlt würden. Die Blockaden würden vor allem Kleinproduzent*innen treffen und trügen Schuld, wenn Krankenhäuser in Versorgungsnot kämen. Randaliert hatten – das kam zum Pech von Giammattei aus – von der Regierung infiltrierte Schlägertrupps. Trotz der erhöhten Präsenz von Polizei und Militär halten die Proteste und Strassensperren weiter an. Vielerorts solidarisierte sich die Polizei auch mit den Demonstrierenden, weil sie von ihnen mit Lebensmitteln versorgt wurden. Anderenorts schafften es Gemeinschaften, die Militärs friedlich und unter Applaus von ihrem Gebiet zu vertreiben.

Ungewisser Ausgang

Dennoch scheint die Situation jetzt festgefahren: Die Regierung bewegt sich nicht, der Wirtschaftsverband schreit nach freien Strassen und die Präsenz von gewalttätigen, auch zivilen Stosstrupps wird immer offensichtlicher. Auf der anderen Seite haben die Blockaden etwas nachgelassen, sind aber immer noch heftig. Am Freitag 15.10. wurden 190 gezählt. Mittlerweile lassen sie aber nicht mehr nur Krankenwagen, Patient*innen und medizinisches Personal durch, sondern auch Lebensmittel und strategische Güter. Damit soll der Regierung die Möglichkeit genommen werden, zu spalten.
 
Der «Pakt der Korrupten» setzt auf Repression und auch wenn die bisher nicht richtig funktioniert, kann sich das ändern. Sie spielen auf Zeit, um die Bewegung zu ermüden und die Unterstützung in der Bevölkerung zu reduzieren. Miguel Mörth schreibt weiter: «Die Proteste sind dazu verdammt, gewinnen zu müssen. Es ist der erste massive Protest eines vereinten Landes unter der symbolischen Führung der indigenen Autoritäten. Das allein tut dem Pakt und der Oberschicht extrem weh. Die Weisheit dieses Kampfes, seine pazifistische, aber entschlossene Umsetzung kann das Land für die Zukunft verändern. Eine Niederlage würde uns lange zurückwerfen und die Bedingungen für die nächsten Jahre dramatisch verändern. Es geht längst nicht mehr nur um die Machtübergabe an Arévalo. Wenn sie es schaffen, die Machtübergabe zu verhindern und die Bewegung zu unterdrücken, stünde uns eine lange Nacht bevor. Andernfalls könnten wir endlich beginnen, das Land wieder aufzubauen.»

Fotos: Prensa Comunitaria