Seit Anfang März blockierte Israel alle Hilfslieferungen. Millionen Menschen hungern, die Grundversorgung ist fast vollständig zusammengebrochen. Trotz wachsender Kritik aus dem Westen folgen kaum Konsequenzen – während unsere Partner*innen vor Ort um jedes Leben kämpfen.
Alice Froidevaux
Psycholog*innen des Gaza Community Mental Health Programme im Nothilfeeinsatz in Gaza
Nach drei Monaten erreichten Ende Mai wieder erste Hilfslieferungen den Gazastreifen. Doch die Katastrophe bleibt bestehen. Die israelische Regierung blockiert weiterhin systematisch die Versorgung der eingeschlossenen Bevölkerung. Die wenigen Lastwagen mit Hilfsgütern reichen bei Weitem nicht aus, um den grundlegendsten Bedarf zu decken. Es ist Kalkül: gerade genug Hilfe, um internationalen Druck abzuschwächen, aber nicht annähernd genug, um Entlastung zu schaffen. Teile der rechtsextremen israelischen Regierung sprechen sich offen gegen jede humanitäre Versorgung aus – ein erneuter Beleg für die Vernichtungspolitik gegenüber den Menschen in Gaza.
Gleichzeitig weitet die israelische Armee ihre Militäroffensive aus: Luftangriffe treffen dicht besiedelte Gebiete, Bodentruppen drängen die Bevölkerung in immer kleinere Zonen. Hilfsstrukturen und Konvois werden wiederholt angegriffen. Israel äussert offen seine Absicht, Gaza dauerhaft zu besetzen und die palästinensische Bevölkerung in Nachbarländer umzusiedeln. Teil der Strategie ist ein neuer Mechanismus für die humanitäre Hilfe: Hilfsgüter werden nur noch in vier «Hubs» im Süden Gazas und unter vollständiger Kontrolle Israels verteilt. Der Zugang führt durch unsicheres Gebiet und ist an Sicherheits-prüfungen durch die israelische Armee gebunden. Private Sicherheitsfirmen ersetzen unabhängige Hilfsorganisationen, was einen klaren Bruch mit dem völkerrechtlich verankerten Neutralitätsprinzip humanitärer Hilfe darstellt – sie darf nicht politisch oder militärisch instrumentalisiert werden.
Wie ist Hilfe in Gaza überhaupt noch möglich? Diese Frage hören wir oft. Im Unterschied zu anderen internationalen Organisationen hat medico schweiz keine eigene Vertretung vor Ort, sondern unterstützt seit Jahren lokale Partnerorganisationen, ein Grundprinzip unserer Arbeit weltweit. In Gaza bedeutet das: Wir beschäftigen kein eigenes Personal und schicken aktuell keine Hilfsgüter, sondern ermöglichen es unseren Partner*innen, sich – soweit möglich – auf lokalen Märkten zu versorgen. Die Spendengelder können durch elektronische Transaktionen weiterhin an sie übermittelt werden.
Die Mayasem Association setzt ihr Engagement unter Lebensgefahr fort. Während des Waffenstillstands konnten sie Nahrungsmittel einkaufen, um ihre Gemeinschaftsküchen weiterzubetreiben. Ende März waren diese Vorräte jedoch aufgebraucht. Auch die Versorgung mit Wasser bleibt eine tägliche Herausforderung. Zwar funktionieren vereinzelt noch Leitungen, doch die Wasserverteilung ist kompliziert. Mayasem nutzt einen eigenen Tank, der an verschiedenen Sammelpunkten befüllt wird. Da grosse Menschenansammlungen beim Wasserschöpfen gefährlich sind, bringen die Teams es direkt zu den Familien. Mayasem organisiert auch improvisierten Schulunterricht für Kinder und stellt Zelte für Vertriebene bereit. Die von medico unterstützten mobilen Toiletten sind zudem ein wichtiges Mittel, um mit minimalen Hygienestandards den Ausbruch von Seuchen vorzubeugen.
Auch die Palestinian Medical Relief Society (PMRS) konnte sich vor Ende der letzten Waffenruhe noch mit medizinischem Material versorgen. Diese Vorräte werden voraussichtlich Mitte Juni – zum Erscheinen dieses Bulletins – aufgebraucht sein. 61 mobile Teams arbeiten weiterhin unter extremen Bedingungen, oft in notdürftigen und provisorischen Einrichtungen. Dr. Aed Yaghi, Koordinator von PMRS in Gaza, berichtet, dass das medizinische Personal zu den am stärksten bedrohten Gruppen gehört – immer wieder werden sie gezielt angegriffen. Unter Beschuss versorgen die Teams Verletzte und Kranke während auch ihre eigenen Familien Erschöpfung und Hunger leiden. Sie leisten medizinische und psychologische Hilfe, obwohl sie selbst dringend Unterstützung bräuchten. «Wie soll ein Opfer einem anderen helfen?», fragt Dr. Yaghi. Und doch betonen unsere Partner*innen immer wieder: Die Möglichkeit, anderen zu helfen, hält sie am Leben.
Auch die Mitarbeitenden des Gaza Community Mental Health Programme (GCMHP) leisten weiter Aussergewöhnliches, obwohl sie selbst seit 19 Monaten unter den Auswirkungen des Genozids leiden. Der Vorteil: Für psychologische Nothilfe benötigen sie kaum Material. Anfang Mai sprach GCMHP bei zwei Treffen mit 54 Frauen in einem Camp in Deir al-Balah über die seelischen Folgen von Gewalt und Flucht. Es ging um Symptome wie Schlafstörungen, Albträume, hohe Anspannung, um die neurobiologischen Folgen extremer Angst – aber auch um Bewältigungsstrategien, um in der anhaltenden Ausnahmesituation weiterleben zu können.
Der Leiter von GCMHP, der Psychiater Dr. Yasser Abu Jamei, beschreibt eindrücklich, unter welchen Bedingungen das Team arbeitet: «Unsere Mitarbeitenden sind Psycholog*innen – aber sie sind auch Bewohner*innen von Gaza. Sie haben Hunger, sie mussten ihre Häuser verlassen, sie leben selbst im Ausnahmezustand. Dennoch gehen sie jeden Tag in die Notunterkünfte, besuchen Familien, sprechen mit Kindern.» Was sie leisten können, sei begrenzt, solange die Bombardierungen andauern und die Menschen in Ruinen leben. Die Alternative, so Abu Jamei: «Zuzusehen, wie eine Gesellschaft zerbricht. Und das ist für uns keine Option.» Wenn es in Gaza Internetverbindung gibt, nehmen die Kolleg*innen des von medico begleiteten Psychodrama-Netzwerks an Online-Supervisionen mit Ursula Hauser teil. «Dieser Austausch und das Psychodrama geben uns Kraft, weiterzumachen», sagt Ola Abu Hasaballah aus der Gruppe.