Die Bevölkerung Gazas ist einer unvorstellbaren Gewalt ausgesetzt. medico-Partner*innen leisten psychologische Nothilfe und stärken sich gegenseitig, während sie selbst täglich ums Überleben kämpfen.

Alice Froidevaux

Seit Beginn der israelischen Offensive in Gaza leistet das «Gaza Community Mental Healt Programm» (GCMHP) psychologische Erste Hilfe in Notunterkünften. 

«Kein Aspekt unseres Lebens ist derzeit gesund», betont Dr. Ayat Abu Jiab. Die Psychologin wurde in den letzten Monaten selbst mehrfach durch israelische Angriffe vertrieben. Trotzdem leistet sie heute in Zentral-Gaza weiter psychologische Betreuung. «Wir leben in ständiger Angst um uns selbst, um Freunde und Familie. Es gibt keinen sicheren Ort, der Tod ist überall. Wir sind Zeug*innen unzähliger schrecklicher Bilder. Sirenen und Bomben bedrohen uns Tag und Nacht. Die Luft ist voller Staub und Rauch, das Atmen fällt schwer, die Augen brennen. Sauberes Wasser und frische Lebensmittel sind kaum verfügbar.» Auch Ola Abu Hasaballah ist trotz mehrfacher Vertreibung weiterhin in der psychosozialen Arbeit tätig. Sie ergänzt: «Schon vorher hatten wir Frauen Mehrfachrollen als Mütter, Hausfrauen und Erwerbstätige. Diese Belastung ist heute noch viel grösser. Und die Gewalt in den Strassen ist allgegenwärtig. Neben der ständigen Bedrohung der israelischen Angriffe steigt aufgrund der Notlage und des Überlebensdrucks auch die Gewalt unter den Menschen. Sicherheitskräfte gibt es keine mehr, alle sind auf sich allein gestellt – auch davon sind Frauen und Kinder am meisten gefährdet.»

Gegenseitige Stärkung

Ayat und Ola gehören zur Psychodrama-Gruppe, die seit über 20 Jahren von Dr. Ursula Hauser ausgebildet und von medico unterstützt wird. Mitten im Krieg setzen sie Psychodrama-Techniken ein, um der Gewalt etwas entgegenzusetzen und unter extrem schwierigen Bedingungen weiter für die Menschen da zu sein. Rawia Hamam, Ausbildungsverantwortliche der medico-Partnerorganisation Gaza Community Mental Health Programme (GCMHP), koordiniert die Psychodrama-Gruppe und hat angesichts der aktuellen Situation die Initiative «Helping the Helpers» (Hilfe für Helfenden) ins Leben gerufen. «Die psychologischen Fachkräfte arbeiten unter lebensgefährlichen Bedingungen. Angesichts dessen, was sie selbst und ihre Klient*innen täglich durchstehen müssen, brauchen auch sie Unterstützung und Supervision, um ihre Arbeit fortzusetzen und sekundäre Traumatisierungen zu vermeiden», erklärt Rawia.

«Gerade im Krieg hat diese professionelle Intervisionsgruppe einen unschätzbaren Wert. Sie bietet mir einen sicheren Raum, wie ein schützender Brutkasten, in dem ich schmerzhafte Gefühle zulassen und einen Umgang damit finden kann. Für mich als Fachkraft ist das eine unverzichtbare Stütze», erzählt Ayat. Das jahrelang gewachsene Vertrauen in der Gruppe zeigt in dieser Ausnahmesituation seine Wirkung. «Es ist unglaublich wohltuend, bekannte Gesichter zu sehen und sich auszutauschen», sagt Ola. «Wir machen Übungen, besprechen schwierige Fälle und teilen persönliche Erlebnisse. Ich konnte über Mobbing bei meiner Arbeit und den Verlust meines Neffen und meiner Schwägerin sprechen – das hat mir sehr geholfen. Leider ist die gemeinsame Zeit stets knapp und in den letzten beiden Wochen mussten die Treffen wegen Bombenangriffen und dringenden Arbeitseinsätzen der Mitglieder abgesagt werden.»

Teammitglieder des GCMHP im Einsatz, um Vertriebene über Unterstützungsangebote zu informieren.

Psychologische Nothilfe

Seit 1990 engagiert sich das GCMHP in Gaza für die Förderung der psychischen Gesundheit und eine gemeindenahe psychologische Versorgung, die auf Gerechtigkeit und Menschenrechten basiert. Die langjährige Erfahrung und der Schwerpunkt auf der Ausbildung von Fachkräften haben die Grundlage für die aktuelle Reaktionsfähigkeit geschaffen. Seit Beginn der laufenden Militäroffensive Israels bieten die Teams psychologische Erste Hilfe und Notfallinterventionen in Notunterkünften und Camps in verschiedenen Regionen des Gazastreifens an. In immer wieder neu improvisierten Räumen führen sie Einzel-, Familien- und Gruppensitzungen mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern durch und betreiben eine telefonische Hotline für psychologische Beratung.

Einzelgespräche bieten Raum, um über Erlebtes zu sprechen und Emotionen zu teilen, während die Gruppentreffen kurze Momente der Erleichterung und des Vergessens schaffen. Bewusste Atemübungen helfen gegen den hohen Stress, Kinder verarbeiten durch spielerische Ablenkung und Zeichnen ihre Erfahrungen. Zudem vermittelt das GCMHP Kontakte zu medizinischen Einrichtungen und anderen Stellen. «Das Community-Awareness-Programm ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit. Unsere Teams besuchen die Camps, informieren die Vertriebenen über Unterstützungsmöglichkeiten. Der Zugang zu einfachen Informationen darüber, was du tun kannst und wo du Hilfe bekommst, kann einen grossen Unterschied machen», betont Dr. Yasser Abu-Jamei, der Direktor der Organisation.

Dieser Krieg muss enden!

Gazas Geschichte ist geprägt von Blockade und Krieg. Doch die aktuelle militärische Aggression des israelischen Staates übersteigt alle vorherigen an Zerstörung und Brutalität. Der Internationale Gerichtshof stuft das Risiko eines Völkermordes durch Israel im Gazastreifen als «plausibel» ein. Die gesamte Bevölkerung von über 2,2 Millionen Menschen ist betroffen und wird von tiefen psychischen und körperlichen Wunden gezeichnet sein, die auch zukünftige Generationen belasten werden. Bevor jedoch an die Trauma-Aufarbeitung oder Wiederaufbau gedacht werden kann, muss die Gewalt endlich enden. Auf die Frage, welche Botschaft sie den medico-Leser*innen mitgeben möchte, schweigt Ola kurz und sagt dann: «Stoppt diesen Krieg! Ich weiss nicht wie, aber das muss endlich aufhören!»