Am 30.April jährte sich die «Befreiung des Südens» zum 50.Mal. Bei den Feierlichkeiten war auch medico-Projektverantwortliche Anjuska Weil dabei – ein Gespräch über ihr langjähriges Engagement für Vietnam.
Alice Froidevaux
50 Jahre Befreiung des Südens: Einladungsflyer für die Delegierten zu den Feierlichkeiten
Anjuska, wie hast du die Stimmung im Land während dieser besonderen Feierlichkeiten wahrgenommen?
Die Feierlichkeiten waren geprägt von einem starken Fokus auf die Wiedervereinigung. Das Kriegsende am 30.April 1975 war die Voraussetzung dafür. Die Aktivitäten zum Jahrestag standen im Zeichen des Friedens, das Symbol der Friedenstaube war allgegenwärtig. Die grosse Parade fand ohne schweres Kriegsgerät statt. Symbolisch zeigte sich das darin, dass das bekannte Bild des T-54-Panzers, der 1975 das Tor zum Präsidentenpalast in Saigon durchbrach, nicht durch einen echten Panzer, sondern durch eine Menschenformation dargestellt wurde. Die Siegesfeier war keine «Hurra-Parade». Es wurde zwar Entschlossenheit gezeigt, aber auch viel Sensibilität und Bewusstsein für die Folgen des Krieges. So wurden auch sehr berührende Szenen dargestellt: Mütter und Witwen, die nach Angehörigen suchen – Bilder der Trauer, aber auch der Freude beim Wiedersehen geliebter Menschen. Rund um die offiziellen Feierlichkeiten herrschte Volksfeststimmung. Schon Tage zuvor waren viele Menschen und Familien unterwegs – oft in roten T-Shirts mit dem gelben Stern. Viele campten sogar über Nacht vor der Parade am Strassenrand, um nichts zu verpassen. Die Stimmung war geprägt von Freude, Stolz und einem starken Gemeinschaftsgefühl.
Wie gehen junge Vietnames*innen mit der Erinnerung an den US-Krieg und die Befreiung Südvietnams um – und welche Visionen haben sie für die Zukunft ihres Landes?
Vietnam hat insgesamt eine junge Bevölkerung. Dennoch ist die Geschichte des Landes nach wie vor präsent – nicht nur, weil sie in den Schulen vermittelt wird, sondern auch, weil kaum eine Familie nicht direkt vom Krieg betroffen war. Fast jeder Haushalt hat seine eigene, schmerzhafte Geschichte. In vielen Wohnungen hängen über den Hausaltären Fotos von Angehörigen, die im Krieg gefallen sind – Fotos von meist jungen Menschen. Die Jungen tragen diese Vergangenheit in sich, aber ohne in ihr gefangen zu sein. Präsident Ho Chi Minh gehört ganz selbstverständlich dazu.
Junge Vietnames*innen haben eigene Pläne und Perspektiven. Besonders im IT-Bereich zeigt sich viel Dynamik und Innovationskraft. Die Jungen leben heute – zum Glück! – nicht mehr unter dem Geist der «drei Bereitschaften», die einst den Befreiungskampf geprägt haben: Bereit sein, in die Armee einzutreten; bereit sein, zu kämpfen und das Leben zu opfern; bereit sein, an jeden Ort zu gehen und jede Arbeit zu verrichten, wenn das Land mich braucht. So ist die Geschichte bei jungen Menschen präsent – aber stets mit dem Blick nach vorn, nie in einer Rache-Haltung. Das finde ich sehr beeindruckend. Es gibt eine bemerkenswerte Offenheit, auch gegenüber den USA.
Der Vietnamkrieg hatte einst grossen Einfluss auf linke Bewegungen. Heute spielt Vietnam in vielen jüngeren aktivistischen Kreisen kaum noch eine Rolle. Warum ist das aus deiner Sicht bedauerlich?
Ich finde, das ist in gewisser Weise auch positiv: Es brennt heute nicht mehr in Vietnam. In einem Gespräch mit der Leiterin des kleinen Ho Chi Minh-Museums in Hue haben wir darüber gesprochen, warum Onkel Ho im Westen kaum noch eine Rolle spielt. Sie sagte: Er war Kommunist, Humanist und Internationalist – eine zurückhaltende, aber sehr erfolgreiche Persönlichkeit. Genau das passe nicht ins westliche Narrativ, das sich lieber auf gescheiterte Revolutionäre konzentriert. Dabei wäre Ho Chi Minh durchaus eine Persönlichkeit, von der wir heute noch viel lernen könnten.
Du wurdest zu den Feierlichkeiten eingeladen als Anerkennung deines langjährigen Engagements in der Vietnam-Solidarität. Was verbindet dich mit dem Land?
Meine Politisierung begann in der Bewegung gegen den US-Krieg. Die Fernsehbilder vom Vietnamkrieg – in Schwarz-Weiss, aber unzensiert – haben mich tief erschüttert. Auch die Demonstrationen rund um die 68er-Bewegung haben mich stark geprägt. medico international schweiz kenne ich ursprünglich über die damalige Centrale Sanitaire Suisse und deren Engagement für Vietnam (Aide au Vietnam). Bei medico aktiv wurde ich ab den 2000er-Jahren. Über Terre des Hommes kamen Ende der 1960er Jahre Kriegsversehrte Kinder aus Vietnam in die Schweiz – so auch der Bub mit schweren Napalm-Verbrennungen, der zu unserem vietnamesischen Bruder wurde. Es entstanden also auch enge persönliche Verbindungen. Seit deren Gründung 1982 bin ich Teil der Vereinigung Schweiz-Vietnam (VSV), seit 1994 deren Präsidentin. Während sich viele in dieser Zeit neuen Bewegungen zum Beispiel in Zentralamerika zuwandten, blieb für mich Vietnam ein zentrales Thema – ganz im Sinne des VSV-Slogans: «Vietnam bleibt unsere Sache».
Bis heute unterstützt medico Projekte für Opfer von Agent Orange sowie im Bereich der Altersgesundheit. Du hast auf deiner Reise einige dieser Initiativen besucht. Was macht sie weiterhin so wichtig und relevant?
In Vietnam gilt die Maxime: «Niemanden zurücklassen». Das bedeutet gleichzeitig, dass alle mithelfen müssen, damit dieses Ziel erreicht werden kann. Generell funktioniert die vietnamesische Gesellschaft deutlich kollektiver, als wir es aus westlichen Kontexten kennen. In diesem Selbstverständnis – dass Fortschritte nur gemeinsam möglich sind – haben auch internationale Organisationen ihren festen Platz. Die Projekte von medico, die ergänzend zur staatlichen Gesundheits- und Altersversorgung arbeiten, sind daher weiterhin sehr sinnvoll. Ein Beispiel ist die Ausbildung freiwilliger Gesundheitspromotor*innen. Auf grosses Interesse stiess das Programm von Anfang an, deshalb wurde es gezielt für Betroffene von Agent Orange weiterentwickelt. Und genau hier schliesst sich der Kreis zur historischen Verantwortung.