Die Gesundheitsversorgung im südmexikanischen Oaxaca war schon lange prekär – jetzt steht sie am Rande des Kollapses. Die medico-Partnerorganisation Codigo DH kämpft für das Recht auf Gesundheit und nimmt den Staat in die Pflicht.
Philipp Gerber
Pressekonferenz der Menschenrechtsplattform vor dem Spital Dr. Aurelio Valdivieso in Oaxaca
Die Videoaufnahmen zeigen eine bewusstlose indigene Frau, die in einer Decke gehüllt vor einem Spital am Boden liegt – ihre Verwandten sind verzweifelt. Adela Quiroga Calvo war mit einem verfaulten Backenzahn und Anzeichen einer Blutvergiftung acht Stunden von ihrer Gemeinde San José Tenango bis nach Tuxtepec unterwegs. Dort suchten ihre Angehörigen stundenlang nach medizinischer Hilfe, doch kein Spital wollte die 42-jährige Mutter von vier Töchtern aufnehmen. Ein Schicksal, das viele trifft: Fehlende Versicherung, Armut oder rassistische Diskriminierung sind häufige Gründe. Erst als eine lokale soziale Bewegung das Video des Falls in den Sozialen Medien verbreitete, liess sich der Direktor des öffentlichen Krankenhauses erweichen. Wenige Stunden nach der Aufnahme stirbt Adela. Auf ihrem Begräbnis im Weiler Agua Camarón begleiten Mazateca-Indigene den Sarg zum Friedhof. Auf Plakaten fordern sie Gerechtigkeit für Adela und fragen die Regierung von Oaxaca: «Wie viele Leben müssen im Krankenhaus von Tuxtepec wegen medizinischer Fahrlässigkeit noch verloren gehen?»
In den indigenen Regionen von Südmexiko ist die medizinische Unterversorgung keine neue Tragödie. Als 2018 mit Andrés Manuel López Obrador (AMLO) erstmals seit über einem Jahrhundert ein Präsident aus dem verarmten Süden gewählt wurde, verbanden viele arme Bevölkerungsgruppen grosse Hoffnung mit dem gemässigten Linkspolitiker. Bis zum Ende seiner Amtszeit 2024 versprach AMLO, Mexiko werde «eine Gesundheitsversorgung wie in Dänemark» haben – also ein staatlich finanziertes System mit starker Primärversorgung.
Doch zunächst schaffte er eine als «neoliberal» kritisierte, aber gut funktionierende, vom Arbeitgeber unabhängige Versicherung mit transparentem Leistungskatalog ab. Der Kahlschlag ohne funktionierende Alternative fiel mit dem Beginn der Covid-19-Pandemie zusammen. In der Krise wurde das ganze Ausmass der Defizite sichtbar, nach Jahrzehnten der Vernachlässigung und Privatisierung des öffentlichen Gesundheitswesens. In den zwei Pandemiejahren verzeichnete Mexiko laut offiziellen Zahlen 704358 Todesfälle mehr als erwartet – eine Übersterblichkeit von 47%. AMLO wollte zudem die Bürokratie abbauen und parallele Strukturen der verschiedenen Versicherungssysteme zusammenlegen. Auch die weitverbreitete Korruption beim Medikamenteneinkauf und an Private ausgelagerte Leistungen nahm die neue Regierung ins Visier. Das Ziel: Eine «universelle Gesundheitsversorgung» – unabhängig von sozialem Status, Arbeitgeber oder Versicherung.
Sechs Jahre später ist die Situation in Südmexiko nicht besser, sondern schlechter: In Oaxaca jagt ein Skandal den nächsten. «Nie war die Medikamentenversorgung so miserabel», warnte ein Gewerkschaftssprecher des Gesundheitssektors bei einer Demonstration am 1.Mai. Mitarbeitende des Hauptspitals von Oaxaca-Stadt besetzten die Direktionsbüros und forderten Medikamente und weiteres Material. Wenig später machten Bilder die Runde, die eine Operation im Schein von Handylampen zeigen – die Notstromaggregate sprangen nach einem Gewitterausfall nicht an. Immerhin wird im öffentlichen Spital der Hauptstadt ab und an noch operiert. Im Krankenhaus in der Provinzhauptstadt Juchitán sind seit einem halben Jahr beide Autoklaven zur Sterilisierung der chirurgischen Instrumente defekt. Der Operationssaal im gut 100000 Einwohner*innen zählenden Zentrum der zapotekischen Bevölkerung ist stillgelegt.
Das Versagen der mexikanischen Regierung in der Gesundheitsversorgung hat viele Ursachen: Missmanagement, Korruption, schlecht umgesetzte Reformen. Gleichzeitig nutzt die rechte Opposition, unterstützt von Unternehmen, die aufgrund überhöhter Preise aus dem profitablen Gesundheitsmarkt gedrängt wurden, die reale Unterversorgung für mediale Stimmungsmache. Doch hinter der politischen Auseinandersetzung steht eine bittere Realität: Die massive Unterversorgung und das organisatorische Chaos sind Alltagserfahrungen, die immer mehr Patient*innen in private Kliniken treiben – koste es, was es wolle. Viele verschulden sich dafür bei Geldverleihern, die mit Wucherzinsen und mafiösen Methoden agieren.
Angesichts der prekären Lage konnte die medico-Partnerorganisation Codigo DH nicht untätig bleiben. Gemeinsam mit 17 weiteren NGOs reichte sie im Frühjahr eine Klage ein, um das in der Verfassung garantierte Recht auf Gesundheit einzufordern. Sara Méndez, Koordinatorin von Codigo DH, berichtet, dass die Probleme auch in den von ihnen begleiteten Gemeinden immer häufiger auftreten. «Oft erhalten Patien*innen nur dann eine halbwegs angemessene Versorgung, wenn sie ein gutes soziales Netz haben und von Organisationen unterstützt werden», sagt sie. «Wir helfen so gut wir können im Einzelfall – aber entscheidend ist, dass sich das System grundlegend ändert. Der Staat muss seiner Verantwortung gerecht werden.»
In San Dionisio del Mar unterstützt Codigo DH die «Asamblea», eine soziale Organisation, die bereits mehrere umstrittene Grossprojekte im Gebiet der indigenen Ikoots erfolgreich verhindert hatte. Eine ihrer führenden Stimmen ist Wilfrida Sosa Rosas. Seit fünf Jahren kämpft die heute 40-Jährige gegen Leukämie. Auf einem Treffen indigener Aktivistinnen erzählt sie: «Dank der Schulungen von Codigo DH hatte ich den Mut und das Wissen, im Krankenhaus meine Rechte einzufordern». Die teuren Laboranalysen und Medikamente, die das öffentliche Spital nicht abdeckte, konnte sie nur dank ihrer Familie, Codigo DH und medico finanzieren. Es bleibt zu hoffen, dass der Einsatz der indigenen Gemeinden und der Druck der Zivilgesellschaft endlich dazu führen, dass in Mexiko das Recht auf Gesundheit kein hohler Verfassungsartikel bleibt.